Vor zehn Jahren befasste ich mich intensiv mit dieser Thematik. Das war im Rahmen meiner heilpädagogischen Abschlussarbeit. Tu es immer noch beherzt, weil mir je länger je mehr Kinder begegnen, die zwar atmen, gehen, reden – und doch nicht WIRKLICH sind - oder nicht wirklich SIND. Auch, weilwirklich werden viel mit "langsam gehen" zu tun hat.
Was ich in der Folge hier teilen werde, sind im Wesentlichen Gedanken aus jener Arbeit, die mir heute noch wichtiger als damals sind. Manchmal staune oder erschrecke ich darüber, was mir vor zehn Jahren bezüglich Folgen im Leben einer mediendiktierten Jugend schon klar war. Ich gäbe viel darum, mich damals geirrt zu haben.
Bevor ich mich dem WIRKLICH werden oder WIRKLICH sein annähere, werde ich darüber nachdenken, was es eben nicht ist – und wovon wir heute meiner Einschätzung nach viel zu viele Heranwachsende (durchaus auch Erwachsene) haben. Das hat hüben und drüben Folgen, die mir wehtun, ja, die uns als gesamte Gesellschaft bereits heute enorm beschäftigen und zum Beispiel in der schulischen Landschaft tüchtig heraus- bis überfordern.
Gedanken von heute schreibe ich in Weiss, jene von damals in Braun auf. Ich beginne mit einer Begegnung von Anno 2005.
Einer der nicht DA war
Neulich sass mir im Autobus ein Jüngling gegenüber, bei dem ich mir nicht sicher war, ob es vielleicht bloss eine Karikatur dieser Gattung war. Grenzen werden auch in der realen Welt immer fliessender! Seine Beschreibung:
- in rechter Hand einen knappen halben Meter Sandwich (ehrlich!)
- in der linken das Handy in Aktion
- unterm linken Oberarm eine Packung Corn-Flakes geklemmt
- zwischen den Füssen sein Rucksack
- zwischen den Knien eine XL Fanta-Flasche
- und in seine Ohren die Disc-Man-Stöpsel gestopft …
Was da nicht alles eingeklemmt war! Sichtbares - und möglicherweise auch Unsichtbares! Irgendetwas klemmt hier doch! An der dritten Haltestelle stürzte der Jüngling wie ein Düsenjäger aus dem Bus. Kaum wollte sich das Postauto in Bewegung setzen, gab’s draussen ein aufgeregtes Geschrei: „Halt, halt, nicht abfahren, aufmachen …!“ Wenige Sekunden später sass „der Eingeklemmte“ wieder auf dem Sitz mir gegenüber, inzwischen seine Ohren von den Stöpseln befreit! Halbwegs aufgewacht und im realen Bus endlich gelandet.
Ganz erstaunt erklärte er mir: „Bin eben zu früh ausgestiegen!“ „Das kann leicht vorkommen, wenn man abgemeldet ist“, erwiderte ich lächelnd. Wie meinen Sie das“, erkundigte er sich, und ich deutete auf seine zur Ruhe gekommenen Ohren hin. „Ach so, ja natürlich“, meinte er und lächelte zurück. Offensichtlich hatte er verstanden. Die Stöpsel setzte er nicht wieder auf – wollte ja noch am richtigen Ort aussteigen! Dass er erst drei Stationen später aussteigen musste, machte umso deutlicher, dass er vorher schlicht nicht da war, total abgemeldet von der realen Welt, wo jeder Versuch, per Mausklick wieder auf seinem Postautositz zu landen, scheiterte. Dazu musste er sich den Gesetzmässigkeiten der realen Welt beugen und einen kleinen Aufwand betreiben, um am gewünschten Ziel anzukommen. Ein- und Ausklicken in Zehntelssekundenschnelle ist bis heute nur in der virtuellen Welt möglich. Dort spielen Ort und Zeitpunkt des Ausklickens keine wirklich wesentliche Rolle. Ganz anders im Postauto!
In dieser Zeit vor zehn Jahren stand in der Eisenbahn folgendes bei Menschen zwischen 20 und 50 in den regen Anfängen: gestöpselte Onliner an Handy oder Lap-Top. – Heute ist dieses Bild alltagsgegenwärtig und zwischen 9 und 79 fast lückenlos altersübergreifend. Gegenwärtig oft genug auch bei der Mutter, die ihren Kinderwagen stösst oder ihr Kind stillt. Vielleicht müsste man eher sagen: ruhig stellt? Denn Gestillt werden ist viel mehr als "Brust rein und Milch raus".
Ich hatte diesen Frühling während zehn Wochen das unbeschreibliche Vergnügen, einer Katzenmama und ihren vier Jungen bei der Aufzucht zuzusehen. Das fast tägliche Studieren des zärtlichen Umgangs von Katzenmama mit ihren Würflein während Stillen und "Windeln wechseln" könnte mithelfen, einen wie mir scheint verloren gegangenen gesunden Menschen- und Mutterverstand zurück zu erobern. Es gibt sie noch, diese Menschenmütter. Ja! Und dafür bin ich dankbar. Aber definitiv deutlich weniger als zu meiner Kindheitszeit.
Sind wir wirklich da angelangt, wo der Mensch in diesem Bereich zum Tier gehen muss, um neu zu begreifen, was den Menschen menschlich macht und wie er seine Würflein würdevoll und menschenwürdig aufziehen soll? So, dass ihre Kinder seelisch gestillte und innerlich gefestigte Persönlichkeiten werden können?
Zurück zu meiner Beobachtung in der Eisenbahn:
Die drei Affen
Ich weiss nicht genau, wann es war. Ich sass im Zug und sah mich von lauter Menschen umgeben, die nicht auf zwischenmenschlichem, aber sehr gezielt auf unterhaltungstechnischem Empfang standen. Die einen hatten die Stöpsel im Ohr, die andern schienen verliebt in ihr Handy, wieder andere leisteten konzentriert Freund Lap-Top Gesellschaft. Kurzum ein so unlebendig-technisches Klima innerhalb einer Ansammlung von Menschen, von denen jeder ein sehr spannendes, dynamisches Buch wäre. Ein Klima, eine Situation, die mich nachdenklich stimmte. „Wo rasen wir nur hin?“ fragte ich mich einmal mehr besorgt. Und ganz plötzlich schob sich mir bei meiner „Studie des postmodernen Menschen“ ein seit Jahren bekanntes Bild vors innere Auge:
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