Stirb nicht, kleiner Vogel
Sie sass an ihrem PC und schrieb Freunden eine Mail. Gerade, als sie von Traurigem berichtete, knallte ein kleines Etwas gegen ihr Bürofenster und fiel dumpf einen Stock tiefer in die Wiese. Hastig wollte sie ihre Zeilen fertig schreiben, um möglichst schnell zum ungeschickten Vogel zu kommen. Da fiel ihr Nachbars Katze ein, die den Garten zu ihrem Revier gemacht hatte und sie verschob das zu Ende Schreiben der Nachricht auf später. Jetzt war der Vogel dran, sonst … Schnell eilte sie zum Garten runter.
Da lag er, wie tot, auf seiner linken Seite unterm Apfelbaum. Beine von sich gestreckt, Krällchen eingerollt, mühevoll hächelnd und zwinkerte mit seinen Amseläuglein. Sah nach letzten Lebenszügen aus. Kalt war er schon, der zarte Körper. Einzig das Köpfchen schien noch lebendig-warm. Sie hob die Amselmutter auf, legte sie ins Bett ihrer warmen Hände und fing das kleine Tier zu streicheln an, das dalag, als hätte es mit dem Leben abgeschlossen. Ihr kamen die Tränen: „Du Dummerchen du, hast die Vorhänge nicht gesehen? Stirb nicht kleiner Vogel, bitte stirb nicht! Es wird auf dieser Erde viel zu viel unnütz gestorben.“
So redete sie dem zerzausten Federtier zu, bis sie mit ihm in der Hand in der Küche stand. „Wo ist die Spritze schon wieder?“, überlegte sie. Bald hatte sie diese gefunden und mit Wasser gefüllt. Ob Amselmama reagiert, wenn sie ihr zu trinken geben wollte? Tatsächlich! Da war noch regsames Leben drin, wenn auch total geschwächt. Hoffnung keimte in ihr auf.
„Stirb nicht, kleine Mutter, kämpf dich durch, ich helfe dir.“
So verbrachte sie einige Zeit mit dem verunfallten Tier, streichelte sein Körperchen und plante weiter. "Ein Körbchen muss her, weich gepolstert, damit sich Frau Amsel über Nacht hoffentlich erholen kann. Sollte sie sich unerwartet früh erholen, muss ein Wäschenetzchen übers Körbchen geschoben werden", entschied sie. Da war ja noch ihr Hund im Haus, der so gern Fangen spielt. Ein lieber Kerl, doch sehr neugierig.
Unter der Schreibtischlampe konnte sich der Vogel gut aufwärmen. Eine Nacht Erholung, ja, das wollte sie ihm geben – und ein paar Apfelstückchen dazu. Gesagt, getan. In Abständen schaute sie im Krankenzimmer vorbei, öffnete das Netzchen, streifte dem Tier sorgsam übers Köpfchen und redete ihm wieder zu: „Stirb nicht, kleine Mutter, kämpf dich durch! Ich helfe dir.“ Stunden später sah sie den Vogel auf eigenen Beinen sitzen ...
Der neue Morgen kam. Ihr erster Gedanke galt ihrem gefiederten Patienten, der putzmunter in seinem Körbchen höckelte. Ihr Herz hüpfte vor Freude. Sie trug das Körbchen nach unten in den Garten, öffnete das Netzchen und dann – als wäre am Vortag nichts Schreckliches passiert - breitete Amselmama kraftvoll ihre erstarkten Schwingen aus und flog elegant, zielsicher und pfeilgeschwind dem nächsten Baumwipfel zu!
Was für ein heller Morgen! Für zwei Seelen.
Katharina Steiner, Dezember 2013
Je länger ich über die Geschichte nachdachte, desto klarer wurde mir, dass sie zu mir reden wollte. Mehr als eine Geschichte war. Damals, in einer sehr dunklen Zeit meines Lebens, das mich an meine Grenzen brachte. Sie ereignete sich zwei Tage vor Eintritt in die Herzbruchklinik, in der ich mein zerfleddertes Herz sortieren wollte. Hoffend, ich würde irgendeine "Wundsalbe" finden, durch die ich zu neuen, lang ersehnten Lebenskräften kommen dürfte.
Als ich Gefährte die Amselgeschichte erzählte, meinte er spontan: "Die Amselmama bist du. Völlig erledigt, am Rand deiner Kräfte. Doch wart's ab in Geduld: Auch du wirst bald wieder mit neuen Kräften im Leben stehen und zielstrebig aufwärts fliegen ..." Er war nicht der einzige, der mir die Geschichte so interpretierte. Weiss noch genau, was ich dachte: "Zu schön um wahr zu sein! Kann mir nicht vorstellen, je wieder kraftvoll und freudvoll im Leben zu stehen." So am Ende mit meinen inneren Kräften war ich wohl noch nie. So mutlos auch nicht.
Und doch: Genauso kam es! GNADE! Nicht einfach automatisch. An der Seite meines Gottes habe ich mitten in der Krise manches dazugelernt, über Ihn, über mich, über unsere Kinder, übers Unterwegssein mit IHM, was mich zusehends erstarken und neu vertrauen liess. Da wuchs wieder Boden unter meinen Herzensfüssen! Boden der trägt - vielleicht wie nie zuvor. Eindrücklich, wie genau das auf mich zutraf, als ich noch mitten im Wiederherstellungs-Prozess stand:
„Stirb nicht, kleine Mutter, kämpf dich durch, ich helfe dir.“
Ich hätte die Kleider meines Lebens am liebsten zusammengerollt und abgegeben. Doch da war Einer, der mich in beispielhafter Treue hielt, mir diese Worte in grosser Liebe und täglich neuer Geduld ermutigend zurief, bis ich's selber fassen und neu glauben konnte, dass Er noch so einiges vorhatte mit mir ... Gnade, die unbeschreiblich - aber erfahrbar ist!
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