Gestern war wieder Bügel- und Sachen-in-Ordnung-bring-Tag bei meinen Eltern. Als sympathischen Einstieg in den Arbeitstag luden mich meine Eltern in einem sehr ansprechenden Gartenrestaurant zum Essen ein. Vater hätte sich zwar ein anderes Lokal gewünscht – weil es dort maximal feine Safran-Spaghetti gibt, die er über alles liebt. Aber ihn im Rollstuhl den Stutz hinauf zu fahren, hätte meine Körperkräfte überfordert.
Während ich meinen Vater an unserem Tisch platzierte, kam ich mit einem betagten Herrn vom Nebentisch ins Gespräch, der meine Eltern ihrer Tochter wegen bald zu rühmen begann. Auch mit seiner freundlichen, aufgeschlossenen Tischnachbarin kam ich leicht ins Gespräch. Als wir wenig später mit unserer Vorspeise beglückt wurden, hörte ich den Nebenherrn zu einem Kellner sagen: „... und Gottes Segen noch!“
„Ja, das wünsche ich Ihnen ebenso!“, rief ich ihm zu, „ es gibt kaum einen besseren Wunsch für einen Menschen!“ Meine Worte klopften seine Aufmerksamkeit neu aus dem Busch. Was ist nur mit dieser Dame los, die da quer über die Tische einen Segenswunsch zuschickt? Schien ihn zu interessieren. Er erhob sich und kam auf mich zu, wollte wissen, ob ich was mit Gott am Hut habe? Als ich erklärte, alles wirklich Gute würde stets aus dem Himmel kommen, verneinte er vehement und erklärte: „Ich bin als Verdingkind aufgewachsen, sechs Jahre in der Schweizer Garde gewesen, zweimal Witwer geworden – wo war Gott zu diesen Zeiten? Wo?“
„Oh ja, das schmerzt, das kann ich gut verstehen, das tut sehr weh“, antwortete ich. „Doch ich denke nicht, dass es Gott war, der ihnen diese schweren Wege aufgebürdet hat. Glaube persönlich, dass es zwei Mächte gibt., die um uns ringen. Jesus Christus, die Macht der Liebe, und der Teufel, die Macht der Manipulation und Zerstörung. Und in jeder Lebenssituation haben stets beide ein Ziel mit uns. Jesus zum Guten, sein Feind ein destruktives. Ich glaube, wir verwechseln so oft die Absender dessen, was uns ins Leben gerollt kommt.“
„Oh, Sie sind eine weise Frau. Kennen bestimmt das Buch der Weisheit?“ Habe auch eins, ein rotes. Hat man mir zur Firmung geschenkt. Jetzt im Ernst: Mit Ihnen möchte ich nach dem Essen noch eine halbe Stunde lang diskutieren. Lade Sie alle zum Dessert ein“, gab Herr B zu verstehen. Und das war ihm bocksernst, realisierte ich schnell. Inzwischen wussten wir, dass er eine aggressive Krebsgeschichte zu bewältigen hat und seit kurzem weiss, dass seine Lebensmonate einigermassen gezählt sind. Auch das noch!
Da meine Eltern auf 14 Uhr zum Arzt mussten, blieb ich alleine mit Herrn B zurück, genoss ein „Beeren-mit-Vanille-Eis-Dessert“ zu einem Espresso und teilte eine halbe Stunde lang Leben mit ihm. Über die zentralsten Fragen des Lebens.
- Wissen Sie, wohin Sie nach ihrem letzten Lebenstag gehen werden?
- Wissen Sie, wem Sie gehören?
- Darf ich Sie in den Himmel lotsen?
Bald wollte er wissen, welcher Religion ich angehöre und ob ich so aufgewachsen sei?
„Bin total unreligiös“, gab ich zu verstehen, was ihn sehr irritierte. Also half ich nach: „Ich lebe in einer lebendigen Beziehung zu meinem Schöpfergott. Erfülle also keine Gesetze. - Nein, so aufgewachsen bin ich nicht, habe mich erst mit 22 für den Weg an Jesu Seite entschieden und bin sehr glücklich über diese Entscheidung.“ Darüber wollte er mehr wissen. Doch die Zeit drängte mich langsam in Richtung Bügelbrett. Dafür war ich ja gekommen.Viel konnten wir gemeinsam bewegen, vor allem Lebenswichtiges - obwohl wir uns erst kurze 40 Minuten lang kannten, wenn man alles zusammenzählte. Manchmal kennt man Menschen schon 20 Jahre und kommt nie an diesen Punkt.
Irgendwann im Gespräch meinte Herr B, ich würde ihn an die Benediktinerin Hildegard von Bingen erinnern – und überhaut, aus mir wäre eine gute Äbtissin geworden. Musste schmunzeln, gleichzeitig staunen. Wie er das alles einordnet? Schlicht spannend, dieser Mensch. Offensichtlich weiss er viel! Manches, was Herr B so sagte, erstaunte und berührte mich. Wir beide sind wohl durch den andern gesegnet worden. Als Herr B mir dann eröffnete, dass er sich mit der neuen Diagnose und der noch verbleibenden kurzen Lebensdauer schwertue, so schwer, dass er diesen Morgen ernsthaft an Suizid gedacht habe, traf es mich sehr. Er meinte dann: „Aber nun habe ich Sie getroffen, und weiss, dass ich das nicht tun soll.“
„Nein, tun Sie das nicht. Überlassen Sie Ihren letzten Lebenstag unserem Gott“, ermutigte ich ihn beherzt, einfühlend, dass es nicht eitel Honig schlecken ist, mit dieser Diagnose und dem Wissen eines einigermassen nahen Todes zu leben.
„Danke HERR! Du hast Programm gemacht gestern. So unverhofft wie oft! Steh Du Herrn B in grosser Treue bei, Herr Jesus Christus, und hilf ihm anzukommen in Deinem Reich. – Und danke sehr, dass ich Vater nicht zum „Restaurant Mühleacker“ hinauf zu stossen imstande war! Gottfälle gibt’s – immer wieder neue ... Amen.“
"Wenn Sie das nächste Mal wieder hierher kommen", ermunterte mich Herr B beim Verabschieden, "dann nehmen Sie aber Ihre Bibel mit!" Dies wird einem nicht von jedem zweiten Schweizer gesagt ...
Song: Du bist ein Ton
https://www.youtube.com/watch?v=I2xOTOTD1bY&list=RDl9hMcsg2fg8&index=13
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