Finden - pflegen - loslassen
... und gerade deshalb behalten, im Herzen drin (Sommer 2001)
Kapitel 1
Man glaubt es kaum - seit zwei Tagen sind wir ganz unvorbereitet um ein Familienmitglied reicher geworden: ein allerliebster, kleiner, süsser, wohl ziemlich vorwitziger Jungvogel flattert - und kotet - seither durch unser Haus!
Unsere Buben sind in eindrücklicher Aufregung, und ich darf aus der heimlichen Ferne und doch von ganz nah erleben, wie so ein kleines, hilf- und schutzloses Lebewesen sogar Computer und Glotze in den längsten Schatten stellt ...! Oh, wer hätte das gedacht, dass Vöglein solch Vergnügen macht? Da ist eben L E B E N drin, denke ich - und dieses löst halt immer noch und Gott sei Dank die grösste Faszination in einem Menschenherzen aus, wo doch "Freund PC" letztlich ein sehr regungs- und seelenloses, kaltes Gegenüber bleibt. Eines, das durchaus seine hilfreichen Seiten hat; ich sitze ja gerade davor. Gegenüber der Schöpfung allerdings hat er in unserer Familie wieder einmal kläglich verloren. Über dieser Niederlage hüpft mein Mutterherz ...
Ja, wie kam es zu unserem neuen Mitbewohner? Als ich am Mittwochnachmittag von meiner Einkaufsrunde zurückkehrte, kam mir Vogelfreund gedankenversunken aber selig entgegen, ein kleines Etwas in fürsorglicher Behutsamkeit in seinen Händen tragend: "Mutti, Mutti, schau, ich habe einen neuen Freund. Ist wohl zu früh aus seinem Nest geflogen. Kann nämlich noch gar nicht richtig fliegen! Schau!" Ja, jetzt musste ich mir Zeit nehmen für seinen - und meinen - Schatz, an dem sein ganzes Herz zu hängen schien. "Was nun", schoss es mir durch den Kopf, wobei ich bald erkannte, dass ich diese Frage besser an mein Herz richten würde! In solchen Dingen sind sich Kopf und Herz ja selten einig. Mein Kopf meldete mir zackig: "Jungvöglein sollte so schnell wie möglich an jenen Platz zurückgebracht werden, wo klein Sohnemann ihn aufgegabelt hat, damit ihn seine Eltern weiter versorgen können!" Äusserst vernünftig, zweifellos. Wäre das Beste gewesen, diesen kleinen Kerl erst gar nicht aufzuheben. Vogelfreund konnte ja nicht wissen, dass es Vogelarten gibt, bei denen es einfach dazugehört, dass die vorwitzigeren Vogelkinder ihr Nest einige Tage zu früh verlassen, dann aber problemlos von ihren Eltern weiter versorgt werden. Im Gegenteil: Er war felsenfest davon überzeugt, soeben Retter in grosser Not eines armen verwaisten Vögelchens geworden zu sein, für das er jetzt auch Verantwortung übernehmen wollte.
Zuerst aber riet ein vernünftiger (?) Erwachsener seinem Kind: "Bring ihn schnell zurück an jene Stelle, wo Du ihn gefunden hast!" Nicht gerade begeistert zottelte Vogelfreund zurück zur Turnhalle. In dieser Zeit machte ich mir Gedanken über meinen Rat, den ich je länger, je weniger für weise hielt. "Einfach, weil du dich der Aufgabe gegenüber überfordert fühlst, einen Jungvogel mit Erfolg aufziehen zu helfen - und es dir nicht ganz in deinen Kram passt - hast du so geraten! Etwas zu einfach und doch irgendwie auch ziemlich bequem, Mutter Steiner“, tadelte ich mich selbst.
Nun, Vogelfreund kam nach einer Viertelstunde wieder nach Hause, mir mit den treuherzigsten Augen des 21. Jahrhunderts grossherzig und fest entschlossen erklärend: "Also Mutti, das Vögelchen hat einfach nicht dort bleiben wollen, es gefällt ihm viel besser bei mir ..."
"So Frau Mama, jetzt wäre der Zeitpunkt gekommen, wo du am allerbesten dem Vorschlag deines Kopfes den Rücken zukehren und dich deinem Herzen zuwenden solltest! Hast du es wohl begriffen?" Und wirklich, in mir dämmerte es, dass es nun Zeit wäre, auf die Stufe und den Erlebnis- und Entdeckerdrang meines Sohnes hinunterzusteigen und einfach seinem Herzenswunsch zu folgen, ganz egal, ob wir den kleinen Kerl durchbringen würden oder nicht. Liessen wir ihn jetzt frei, läge er eh über kurz oder lang in den Fängen einer hungrigen Katze - aber das Erlebnis, für ein paar Tage ganz nah am Leben eines Wildvogels teilhaben zu können, hätte mein Kopf meinen Kindern um ein Haar verwehrt ... Ach, die so abgeklärten, sich nicht stören lassen wollenden Erwachsenen! Eigentlich rede ich da von mir - beschämt halt ein bisschen weniger, wenn man sich hinter der Mehrzahl einer unbestimmten Masse verstecken kann! Ja, ja, von den Kindern können wir Grossen so einiges lernen. „Also los, Vogelfreund, dein zarter Schatz kann bleiben!“
So konsultierten wir in der Folge unsere Vogelbücher. Wir Vogelunkundigen sahen unserem federleichten Sprössling seine biologische Herkunft nicht an. Um aber zu wissen, was unserem Piep-Matz, so heisst er inzwischen, mundet oder besser schnabelt, brauchten wir eine ungefähre Ahnung davon, um welche Vogelart es sich bei ihm handeln könnte. Insektenfresser hätten gewiss ihre liebe Mühe, wenn Samenkörner auf dem täglichen Menuplan stünden! Vielleicht handelt es sich bei Piep-Matz um eine Finkenart, die zu den Allesfressern (Samen, Insekten Würmer, Raupen...) gehören, was unsere Verantwortung als Adoptiveltern einiges erleichtern würde. Die Zeit wird uns helfen, hinter den Familien-Stammbaum von Piep-Matz zu kommen, sein Herkunftsgeheimnis zu lüften. Geduld, Geduld!
Inzwischen kam auch Philosoph, unser Teenager, eingetrudelt. Ganz verschwitzt und begreiflicherweise nur eines im Kopf: nullkomma-sofort ein Bad zu nehmen. Aber diese Idee wurzelte nur im Kopf – denn sobald er mit Piep-Matz Bekanntschaft gemacht hatte, folgte auch er seinem Herzen und verbrachte gewiss länger als eine Stunde damit, das kleine, filigrane Federtier zu bestaunen, es väterlich in seine starke Hand zu nehmen, um es in einer nicht zu beschreibenden Seligkeit zu streicheln und bemerkte glücklich: "Das habe ich mir schon so lange gewünscht, einmal einen freilebenden Vogel in meinen Händen zu halten. Ist bestimmt eine Seltenheit!"
Jede weiche, zärtliche Faser seines Herzens wurde durch Piep-Matz angeregt und zu überschäumendem Leben und unbeschreiblicher Freude erweckt, sodass auch ich meine helle Freude daran hatte, nicht dem Kopf, sondern meinem Herzen den Vorrang gegeben zu haben. "Mutter, was hättet ihr alles verpasst, wenn du darauf bestanden hättest, Piep-Matz an seinen Fundort zurück zu bringen ...?"
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