Übermütig „stelziertest“ du nun eilends über den Balkonboden und suchtest dein neues Revier ab. Bald darauf machte es den witzigen Anschein, dass es dir zu dämmern begann, die beiden Flügel auf Deinem Rücken seien vermutlich doch mehr als blosse Dekoration. Es durchzuckte dich vom Schnabel bis zu deines Schwanzes Ende, und dem geneigten Zuschauer war, als würdest du eine ganze Horde Ameisen unter deinen jungen Flügeln hüten! Welch ein seltenes Schauspiel – welch ein Vorrecht, deiner Entwicklung aus der Nähe beiwohnen zu dürfen, und so den Wundern der Schöpfung auf leisen Sohlen staunend und schmunzelnd folgen zu können!
Hin und wieder wolltest du dich mit zwei Dingen aufs Mal beschäftigen, was ausnahmslos bewirkte, dass du über deine eigenen Stelzen stolpertest. Entlockte mir stets einen wohltuenden Lacher! Sah einfach zu köstlich aus, wie du RENNEN und DEN FLÜGEL STRECKEN gleichzeitig in Angriff nehmen wolltest. Für diese Übung wäre ein drittes Bein hilfreich gewesen, kleiner Schatz, da du zum Strecken deines Flügels auch ein Bein mitstrecken musstest. Den einbeinigen „Drei-Meter-Lauf“ musst du gewiss nicht am Anfang deiner Kindheit üben, lieber Pieper! Spar dir noch etwas für die reiferen Tage deiner Jugend auf!
Nachdem du zu deiner Wassertränke trippeltest und genüsslich und zufrieden Wasser genippt hattest, schien es, dass du just von einer Hitzewelle überfallen worden seist. Denn mit einem Satz hüpftest du in die Wasserschale und entdecktest einen neuen Zweck von H2O: das Sommerbaden, an welchem nicht nur du deine helle Freude hattest. Ja, deine Welt öffnet sich dir immer weiter – und du scheinst es aus ganzer Vogelseele zu geniessen!
Auch Gefährte nahm sich einige Minuten Zeit - nicht ohne gekillte Fliege in der Hand - diesem herrlichen Schauspiel beizuwohnen! Fürchte, in Bälde werde ich ihn daran erinnern müssen, seine Fliegenhechte einstellen zu müssen – habe ich doch gestern entdeckt, wie du selbst die ersten solchen Versuche zu starten begannst. Hast du deinem Vogelvater aber wirklich gut abgeguckt! Nichts geht doch über ein gutes Vorbild, lieber Piep-Matz! Merk es dir für jene Tage, die auf deine Vogelhochzeit folgen werden!
Wenn ein Insekt mit deinem Schnabel Fangen spielen will, wirst du augenblicklich aktiv, gehst in die Hocke und federst dich flugs gar kräftig in die Höhe. Dann schickst du deine lange Zunge auf die Reise, die dir nicht selten deinen sagenhaften Sprung mit einer herrlichen Gaumenfreude lohnt! Gut so, du entwickelst dich stilecht zu einer lebenstauglichen, freilebenden Bachstelze mit aussergewöhnlicher Frühbiografie.Har dir bis dahin gar nicht so schlecht getan. Wie froh sind wir darüber!
Die erste Nacht an frischer Luft hast du gut erlebt. Bis jetzt scheint dir die Balkonfreiheit vollauf zu genügen, wo du immer wieder deine Flügel trainierst. Wir sind erstaunt, dass du noch unter uns bist und sehr gespannt, wann der Zeitpunkt naht, in welchem du uns verlassen wirst? Auch, ob wir dir dann noch ab und zu in unserem Garten begegnen werden?
Vielleicht steigst du auch wieder mal auf unserem Balkon ab, um einen längst vertrauten Piep-Matz-Gruss zu landen? Den Balkon fegen wir auf alle Fälle noch nicht so schnell! Schön, dass wir schrittweise und bewusst von dir Abschied nehmen können! Die Federn, die du hin und wieder liegen liesst, habe ich in einer Streichholzschachtel aufgehoben – ein kleines, kostbares Erbe von dir. Das Kostbarste allerdings lebt nun in unseren Herzen mit! Dafür danken wir dir, du kleiner, kecker, zutraulicher Freund.
Du hast mich dieser Tage immer wieder an die Geschichte vom „kleinen Prinzen“ erinnert, der den Fuchs trifft und von ihm darum gebittet wird: „Zähme mich!“ - Ja, wir haben’s auch erfahren, einmal mehr im Leben, und doch wieder ganz neu und so anders: Was man zähmen durfte, fügt sich geheimnisvoll und unverlierbar ins eigene Leben ein. Zähmen, wo immer es gelingt, ist vielleicht die schönste, reichste Lektion der Liebe, bei der wir alles einsetzen dürfen: Kopf, Herz und Hand. Wunderbar, dass du dich zähmen liessest!
Sehr herzlich, deine Freunde
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