Lieber Piep-Matz!
Zu unserem Erstaunen hast du noch nicht „Reiss-aus“ genommen. Du lebst jetzt schon über eine Woche auf unserem Balkonzimmer, wo du meist munter über den Boden trippelst. Kaum betrete ich den Balkon, ruf ich dich bei deinem Namen, und schon rennst du in Windeseile auf meine Füsse zu, witternd, dass es wieder etwas Feines zu schmatzen gibt.
Irgendwie kommst du mir allmählich ein bisschen gefangen vor hier zwischen den hohen Betonmauern unserer Balkonbrüstung. Sollten wir dich vielleicht einfach über die Brüstung, sozusagen zum Nest hinauswerfen? Gefährte beruhigte mich: „Sei ohne Sorge, Piep-Matz wird schon fliegen, sobald es ihm zu eng wird hier – er ist ja frei, lebt einfach noch nicht so, als wäre er’s. Zur rechten Zeit wird er schon drauf kommen!“
Inzwischen haben wir schon wieder einiges Nennenswertes erlebt mit dir! Als bei uns zum Beispiel vergangenen Sonntag ein nicht zu verschiebender Tagesausflug auf dem Programm stand hatten wir kurz eine Denksport-aufgabe zu lösen. Säuglinge nimmt man ja hiefür ganz einfach und praktisch im Kinderwagen mit – ein Jungvogel hingegen stellt einen vor ein kleines Problem.
Es war klar: Du musstest zuhause bleiben. Wer aber füttert dich dann? Natürlich, du sasst ja nicht ganz auf dem Trockenen. Insektenschrot stand bereit, ebenso das vitaminreiche Wasser. Vielleicht war unser Ausflugstag auch eine gute Chance, das selbständige Fressen zu üben? Aber wer gab uns dafür eine Garantie? Wir wurden alle erst ruhig, als sich eine liebe Bekannte aus dem Nachbardorf bereit erklärte, dich in der Mitte des Tages mit Hackfleisch zu verwöhnen. Für den Rest deiner Hungerzeiten musstest du dich alleine zurechtfinden. Es hat wunderbar geklappt! Wir trafen dich abends quietschfidel an.
In der Zeit, da es dir auf dem Balkon so behaglich war, dass du mit Fortfliegen keine Eile hattest, schaute jedes Familienmitglied von Zeit zu Zeit nach, ob deine Abreise schon stattgefunden habe oder nicht. Wir konnten fast nicht fassen, dass du vom Angebot der Freiheit nicht sofort Gebrauch machen wolltest. Wer weiss, vielleicht hat dir die weite Welt auch etwas Angst gemacht – mit Freiheit muss man ja umgehen können - und du wolltest zuerst ein paar wichtige Grundlektionen des Vogellebens dazu lernen und gut einüben, damit du die Freiheit eines Tages gut vorbereitet und möglichst ungehindert geniessen kannst? Vorsicht ist die Mutter der Weisheit. Ich versteh’.
Wie ich da wieder einmal auf dem Balkon meine „Kontrollrunde“ machte, war auf der ganzen Bodenfläche kein Federchen, kein Bein, keine Schnabelspitze von dir zu finden. Meinte ich, und ein Anflug von Traurigkeit über deinen sang- und klanglosen Wegflug überschattete mein Herz. Rief dich dann doch bei deinem Namen – und höre da: aus der hintersten linken Ecke „zilippte“ es mir eindringlich „SOS-artig“ entgegen. Aber ausser der nostalgischen, grünen Spritzkanne war in dieser Ecke rund herum rein nichts zu sichten. Dennoch zilippte es inständig weiter, bis ich mich dazu bewegen liess, auch einmal einen Blick IN die Kanne zu werfen...
Und tatsächlich: da strecktest du mir vom Spritzkannenboden aus mit aufgesperrtem Schnabel auf durchgestreckten Stelzen stehend, verzweifelt dein hübsches Köpfchen entgegen und erinnertest mich flugs an die Geschichte Josefs, der von seinen Brüdern in einen Brunnen verstossen wurde. Wie nur kamst du auf die aussergewöhnliche Idee, dem Innern unserer Spritzkanne einen Besuch abzustatten? Warst du wohl aus lauter Einsamkeit auf Kollegensuche, und hat dir dabei das spiegelnde Wasser ein kleines Schnippchen geschlagen? Wie hättest du auch wissen können, dass das, was du voll Hoffnung entdecktest, kein Freund deiner Gattung, sondern nur eine geklonte „Fatamorgana“ deiner werten Persönlichkeit war? Nun, es ist dir gewiss recht schnell und unsanft bewusst geworden, was je nach Wassermenge, die dich schmerzlich willkommen hiess, ein böses Ende hätte nehmen können. Ach, wie gut, dass da die Vorsehung wieder einmal schneller war als meine Gedanken, die mich einen Tag zuvor unseren Balkonpflanzen tüchtig Wasser geben liess, so dass der Wasserspiegel in der Kanne auf einen Pegelstand von etwa 3 Zentimetern abgesunken war! Ideal und völlig ungefährlich für einen Nichtschwimmer und Stelzenläufer wie du einer bist!
War faszinierend und ergreifend zugleich, dein bittendes, flehentliches Gezwitscher zu vernehmen, das nichts anderes zu melden schien als: „Bitte, bitte Vogelmutter, erbarme dich meiner und befreie mich aus diesem ungemütlichen, kühlen, schwarzen, nassen Loch!“ Genau das habe ich sofort und glücklich über dein lebhaftes Dasein getan. Du warst pudelnass und hast dich anschliessend am Laufmeter geschüttelt und geputzt, was im wahrsten Sinne des Wortes gar putzig aussah! Dir zuliebe steht die Spritzkanne seit jenem denkwürdigen Tag in unserem Garten unten ...!
Übrigens: wann immer ich dich vom Garten her bei deinem Namen rufe, antwortest du mir fröhlich mit einem lieblichen „zilipp-zilipp“! So oft ich dies wiederhole, ist mir auch deine Antwort gewiss. Aus purer Neugier liess ich auch nach Bobby, unserem drolligen Hund, rufen, nahm es mich doch wirklich wunder, ob ich auch darauf von dir Antwort bekommen würde – doch das schien dich nicht zu kitzeln. Hast nicht einmal darauf reagiert. Wie interessant - und irgendwie auch sehr geheimnisvoll!
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