Ehe sie rufen ...
Inzwischen bin ich durch die Eröffnung des dörflichen Generationen-Cafés um eine schöne Erinnerung reicher. Wie sehr ich es geniesse, mit Betagten und Jüngeren zusammen zu sitzen und Leben zu teilen. Wir haben einander ja so viel zu geben. Generationen übergreifend eben! Und es geht doch nichts über direkte, echte Begegnungen! Da geh ich wieder hin. Ach ja –übrigens: Die Kinder haben sich von überaus flotter Seite gezeigt!
Einen Tag später fuhr ich zu Mutter. Es stehen verschiedene Arbeiten an, die wir besser gemeinsam anpacken. Dann nahm ich mir auch Zeit, einen Teil unserer Beileidskarten zu lesen, die auf den Heimgang meines Vaters angekommen sind. Es war eindrücklich und tat auch gut zu lesen, wie mein Vater von anderen wahrgenommen wurde, was er an abdrücklichen Spuren in ihrem Leben gezogen hat. Was von seiner Persönlichkeit bei ihnen nachklingt, über sein Dasein hinaus. Ehemalige Berufskollegen, ehemalige Schüler und viele mehr haben sich gemeldet und geäussert. Hab noch lange nicht alles gelesen.
Irgendwann hielt ich inne, nahm leise Traurigkeit in mir wahr. „Was macht dich jetzt traurig, während du doch manch Frohes, positives zu deinem Vater liest?“ Dem wollte ich nachdenken und kam bald ans Ziel:
„Wie kommt es nur, dass wir uns oft erst dann, wenn ein Menschenleben bereits ausgelöscht ist, darüber liebevoll äussern, was uns an diesem Leben, an diesem Menschen so gefreut hat? Was wir an ihm so geschätzt haben? Auch, was uns fehlen wird, dadurch, dass er heimgerufen wurde? Schade doch, dass mein Vater davon nichts mehr mitbekommen hat. Hättet ihr es ihm doch nur erzählt, während er noch unter uns war ...“
Einige werden es wohl getan haben. Viele vermutlich nicht. Natürlich tun diese Worte auch uns Hinterbliebenen gut. Bin dankbar dafür. Und doch will ich aus dieser Erfahrung lernen. Will noch entschiedener als bisher meinen Menschen sagen, was mich an ihnen freut, was ich so besonders an ihnen finde, wie sie mich beschenken mit ihrem Sosein. Auch, wo sie mich wertvoll prägen oder geprägt haben. Dies ungefähr meine Gedanken, die ich mir auf der langen Heimreise machen konnte. Darüber unterhielt ich mich abends dann mit Gefährte.
Und dann, nur einen Tag danach DER Hammer! Nein, eine unglaublich herzwarme UMARMUNG, die ich gleichzeitig von Gott und Mensch empfing ...
Ich ging zum Briefkasten, der mit dem Einzug digitaler Medien nur noch selten eine Besonderheit in sich birgt. Gestern aber hat er mich total überrascht! Da lag ein grosser Umschlag drin, Adresse handgeschrieben, ein wenig dicklich an einer Stelle. Der Absender gehörte zu einer Mutter eines ehemaligen Schülers. Ich zog eine wunderschön gestaltete Karte heraus. Die Mutter reagierte auf die Todesanzeige meines Vaters, die sie in der Zeitung gelesen hatte, und nahm es doch tatsächlich zum Anlass, exakt das zu tun, was ich am Vortag dachte, sollten wir viel häufiger. Nach der herzlichen Beileidsbekundung ging es so weiter:
„... wir haben all die Jahre immer wieder an Sie gedacht. Obwohl inzwischen so viele Jahre vergangen sind (27), ist mir keine Lehrkraft meiner Kinder so gut in Erinnerung geblieben, wie Sie. Gerade heute habe ich die Schlachter-Bibel unseres Sohnes in den Händen gehabt. Das Kontaktbüchlein und Briefe sind mir vor zwei Monaten in die Hände gekommen. Der gute Hirte mit seinen Schafen hängt immer noch in unserem Wohnzimmer ...“
Mir kamen flugs die Tränen. So ein verrückter Zufall, nein Gottfall! Diese Mutter schrieb diese Zeilen wahrhaftig an jenem Tag, als ich bei meiner Mutter auf dem Sofa sass und traurig darüber war, dass wir mit unseren Wertschätzungen oft warten, bis wir uns schliesslich am Grab eines geschätzten Menschen treffen ... Diesmal nicht, Gnade!
Natürlich bin ich mir bewusst, dass nicht jede Mutter eines Ehemaligen so schreiben würde. Ich habe gewiss auch Böcke geschossen, die Verletzungen verursachten, was mir leid ist. Gleichwohl freue ich mich über diese doppelt gelungene Überraschung von Gott und Mensch sehr herzlich. Eine unbeschreiblich eindrückliche Erfahrung von der Sorte:
Und es wird geschehen: Ehe sie rufen, werde ich antworten; während sie noch reden, werde ich hören ... Jesaja 65/24
„DANKE HERR – und bitte schenk mir Augen die sehen, Ohren die hören und Hände die tun, was Du mir dadurch zeigen willst. Amen.“
Ach ja: Dass der gute Hirte und seine Schafe noch immer in einem Wohnzimmer von Eltern eines ehemaligen Schülers hängen - damit hätte ich wahrlich nicht gerechnet. Weiss genau, wie Hirte und Schafe aussehen. Habe den hölzernen Prototypen eben ausgegraben, siehe Bild. Dieser hing in unserem Schulzimmer. Die Kinder lernten anhand ihres Kartonhirten und den Kartonschafen - den Psalm 23 auswendig. Wäre heute schon fast ein Delikt ... Im Hirten stand:
- Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln
In den Schafen war der Reihe nach zu lesen - und jede Woche kam ein Schaf zur Herde dazu:
- Er lagert mich auf grünen Auen, er führt mich zu stillen Wassern
- Er erquickt meine Seele. Er führt mich auf rechter Strasse um seines Namens willen
- Und wenn ich auch wanderte durchs Tal des Todesschattens, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir. Dein Stecken und dein Stab, die trösten mich.
- Du bereitest vor mir einen Tisch angesichts meiner Feinde; du hast mein Haupt mit Oel gesalbt, mein Becher fliesst über.
- Nur Güte und Gnade werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Haus des Herrn immerdar.
Eine so schöne Erinnerung. Offenbar nicht nur für mich.
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