"Wie muss ich das verstehen - ein elektronisches Tagebuch?", so fragte ich bei unserem kürzlichen Besuch nach, der mit seinen Enkelinnen bei uns war. Die beiden Mädels hatten Sehnsucht gehabt nach unserem Phoo und waren gerade von einem ausgiebigen Spaziergang mit unserem Vierpföter zurückgekehrt. Nun erzählten sie eifrig von ihrem elektronischen Tagebuch, das sie von ihren Grosseltern geschenkt bekamen. Eins, das per Code aufschliessbar sei, sogar fotografieren könne und anderes mehr.
Wie sie am Erzählen waren, kamen mir meine Tagebücher in den Sinn, die allesamt ordentlich aufbewahrt in einer Kiste auf dem Boden des Schlafzimmerschranks lagen. Mein allererstes Tagebuch bekam ich zur Weihnacht geschenkt, als ich knapp Sechs war. Das wohl lustigste Exemplar in meiner Sammlung. Als ich dann des Schreibens mühelos kundig war, wurde mir von meiner Mutter immer mal wieder "Strafschreiben im Tagebuch" verpasst. Recht unverfroren äusserte ich mich darin über meine den Eltern unpässlichen Fehltritte. Das Gute daran ist wohl, dass ich heute herzhaft lachen kann über den kleinen, frechen Rohrspatz, dem es nicht schwerfiel, seinem Ärger offenherzig Luft zu machen. Wohlwissend, dass schliesslich noch alles durch die mütterliche Korrekturmühle gehen musste. Diese mahlte trefflich fein, bis hin zum letzten, fehlenden Kommastrich. Eine ungewohnt-originelle Art, die Schreibkunst ihrer Tochter zu fördern. Vermute aber: Sie hat ihr Ziel erreicht Das ist ein herzhaftes DANKESCHÖN wert. Gleichwohl bleibt es für mich bis heute doch ein bisschen verwunderlich, dass mir das Tagebuchschreiben trotz Strafschreibens so lieb geblieben ist ...
Zurück zum Nachmittag mit unserem Besuch: Ich stieg bald eine Etage höher, um besagte Kiste zu durchstöbern und meinen Erstling zu bergen ... Nahm gleich noch drei spätere Bücher mit, die ich den Mädchen zeigen wollte. Irgendwie war mir danach, ihnen zu zeigen, wie man früher Tagebuch schrieb. Ziemlich viel umständlicher und aufwändiger als es heute möglich ist. Wir setzten uns zu dritt auf den Wohnzimmerteppich und tauchten in meine frühere Schreib- und Kreativwelt ein. Ein wahrhaft herrlicher Spaziergang durch vergangene Zeiten meines Lebens. So viel Lebendigkeit, auch Verträumtheit und jugendliche Romantik - von der ich bis heute einiges durchgerettet hab - kam mir aus diesen geschichtsträchtigen Seiten entgegen. Und die Mädels staunten, wie viele Zeichnungen, Verzierungen, Tickets und anderes mehr darin zu finden war. Ein paar Texte las ich vor. Nein, nicht jene, in denen ich meinen Liebeskummer in Buchstaben einzufangen versuchte. Alles hat Grenzen, auch bei mir. Doch da ich nicht dauernd Liebeskummer hatte, gab's genug Vorleseauswahl. Es war herrlich! Wir alle lachten herzhaft zusammen.
Ich weiss von Menschen, welche die Tagebücher ihrer Jugendjahre weggeschmissen haben. Als ich nun wieder einmal in meinen blätterte, wurde ich auf mancher Seite angenehm überrascht: "Was, das hast du einmal gezeichnet? Oh, spannend, wie du dir mit 18 deinen Zukünftigen vorgestellt hast!" Äusserte mich zu Aussehen, Bildung, Beruf, Familie, Krankheiten, Charakter. Letzteres füllte mit Abstand den meisten Raum aus und endete mit dem Satz: "... er darf ebenso viele Fehler haben wie ich." Manche Werte von damals sind mir auch heute noch wichtig. Zusammen mit Gefährte darf ich sie leben und erleben. Gnade.
Klar, dass ich auch Peinlichem begegnet bin. Stört mich nicht. Gehört auch zum Leben, zu meinem Leben. "All inclusiv" wär's jammerschade, wenn ich die Tagebücher meiner jungen Jahre dem Kehrichteimer verfuttert hätte. Sie sind Teil meiner Geschichte, meiner Person. Auch meine Suche nach Gott fand ich darin wieder. So eindrücklich. Wertvoll. Teilweise kam es mir vor, als läse ich in einem Bilderbuch. Mensch, da hatte ich noch Zeit für so viele Zeichnungen und Verzierungen! Erinnere mich gut, dass mich während des Zeichnens oft Klänge von Smetana, Dvorak und Tschaikowsky begleitet haben. Auch STRAUSSiges gab mir oft Schwung in den Stift. Was für ein grosser und irgendwie allerliebster Reichtum, aus dem mich meine Seelenwelt von damals anschaut! Ich mag sie. Auch wenn sie damals wie heute nicht immer nur easy zu handhaben ist. Denn intensives Leben zählt von Klein auf zu meiner Person. Das ist nicht immer leicht; vor allem wenn es ums intensive Erleben von Leid geht. Heute schreibe ich viel nüchterner Tagebuch. Nicht, was die Sprache betrifft. Aber das bunte, verzierende Beigemüse. Es fehlt weitgehend. Im Tagebuch jedenfalls. Alles hat seine Zeit - und seine Aufgaben.
Elektronische Tagebücher sind viel cleverer als ihre altertümlichen Vorfahren, die lediglich hundert leere weisse Seiten zwischen zwei Buchdeckeln hüteten. Der ganze Rest blieb dem Schreiber als Aufgabe überlassen. Ob die jüngste Tagebuchgeneration ihre elektronische Plastik-Kladde genau so persönlich und lebendig gestalten kann, bezweifle ich. Anders gesagt: Ob wir uns ganz allgemein auf all unseren elektronischen Wegen, die unseren Alltag mehr und mehr bestimmen, nicht vielleicht ein Stück weit verlieren - oder gar nicht erst entdecken, weil wir so sehr technisch leben - darüber denke ich nicht selten nach. Deshalb schreibe ich mehr als Blog. Schreibe auch weiter Tagebuch. Von Hand und mit Füller. Das er-füllt mich.
Song von Jürgen Werth: Vergiss es nie
https://www.youtube.com/watch?v=nfLMKF7oK_s
Song von Martin und Jennifer Pepper: Sei gesegnet:
https://www.youtube.com/watch?v=GjBX5oWN7r8&list=RDGjBX5oWN7r8#t=118
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