... höre ich immer wieder, wenn ich mich mit Landsleuten über die allgemeine Prioritätenliste von uns Deutschschweizern unterhalte. Aus meiner Warte sieht die in etwa so aus:
- Arbeit/Geld verdienen, soviel wie nur möglich
- Geld ausgeben für Aktivitäten zwischen "River rafting", "Seiltanzen", "Bungee jumping" - und Versicherungen abschliessen
- den Computer nicht vernachlässigen
- und falls noch etwas Zeit übrig bleibt, sind da auch noch Menschen, mit denen man was anfangen könnte - Beziehung pflegen, in der Familie vielleicht, so sowas noch existiert
Ja, ja ich weiss, ich überziehe jetzt. Doch am Kern der Wahrheit geh ich wohl und leider nicht vorbei ...
Unsere Rumänen lebten etwas anderes vor. Es war letzten Donnerstag Morgen. Sie hatten geplant, zwischen 08.00 und 09.00 Uhr aufzubrechen, um in der Region St. Gallen Besuche zu machen. 08.30 Uhr klingelte es postbotenmässig an unserer Haustür. Draussen aber stand der Mann vom Forstamt, der unseren Holzvorrat abladen wollte. Gefährte wusste nun, was er an seinem freien Tag zu tun hatte, stellte sich bereits auf einen intensiven Arbeitstag ein. Aber nein! Weisser Lilies Bruder Lilius änderte in einer Selbstverständlichkeit sein Programm und bat Gefährte spontan um Holzverräum-Kleidung ... Gefährte wollte abwehren, aber das verstand Lilius absolut nicht.
"Das ist doch ganz normal, dass wir das zusammen erledigen", meinte Lilius, "musst du doch nicht alleine tun. Wir kommen noch früh genug zu unserem Besuch!"
Mir blieb der Kiefer hängen. "Das ist normal in unserer Kultur!", meinte er glaubhaft. Ach so, so rum geht's auch, die Sache mit: "Ist halt unsere Kultur", ...
Das war in knappen sieben Tagen nicht die einzige Erfahrung in dieser Richtung. Eine Richtung, die unmissverständlich zum Ausdruck bringt, dass Beziehung im Kontext des geschenkten Lebens einen sehr hohen Stellenwert hat. Einen viel höheren als bei uns. Ungefähr jenen, nach dem ich mich in unserer diesbezüglich recht trockenen Schweiz, in der für mein Empfinden Arbeit zuoberst steht, schon seit Jahren sehr, sehr sehne. Klaro, Arbeit muss sein. Tut auch gut. Gehört dringend zum Leben. Zweifle bloss das Ausmass und den Platz in der Prioritätenliste von uns Deutschschweizern an.
"Das ist halt unsere Kultur!" Diese - äxgüsi - Furztröchni und oft genug ungemütliche Eisschrankkälte, diese meilenweite Distanz der Herzen zum Herzen anderer, es sei zu Schweizern oder Fremden - halt unsere Kultur? Mir ist bewusst, dass es überall Ausnahmen gibt. Gott sei Dank! Wünsche mir sehr, eine solche zu sein. Nicht um der Ausnahme willen. Nein! Um der Beziehung zu anderen Menschen willen, die doch hier in unserer in vieler Hinsicht herrlichen Schweiz nicht auch noch erstarren wollen. Im Herzen drin meine ich. Unsere Deutschschweizer-Herzens-Tendenz erfahre ich recht weit herum trocken, einigermassen selbstbezogen. Sehr mit sich selbst und den eigenen Anliegen und Interessen beschäftigt. Erfahre sie überdurchschnittlich ge-schäftig. Vielleicht auch kompliziert oder perfektionistisch angehaucht, wenn man sich auf Besuche, auf Gäste vorbereiten will? Oh, das gibt doch sooo viel Aufwand ... Damit gebe ich mich nicht zufrieden. Eine feine Suppe und Brot oder ein Birchermüesli (haben wir schon mit Erfolg erprobt) wären doch voll und ganz genug an kulinarischem Auftritt. Geht es um das, was in den Magen wandert - oder um jenes, wonach die Herzen sich sehnen? Und warum das Birchermüesli nicht mit den Gästen zusammen schnipseln? Warum eigentlich nicht?
"Ist halt unsere Kultur", kommt mir oft wie eine bequeme Ausrede vor, so bleiben zu können, wie es bisher war. "Stör mich nicht in meiner Ruhe, kleine Friedenstaube!" Ich weiss, mit meinen Gedanken störe ich möglicherweise und oft bei manchen Landsgenossen und Genossinnen einen Frieden, der ganz vielleicht nur ein Scheinfriede ist? Ich störe diesen, weil mir der herzwarme Friede unserer und anderer Herzen sehr viel mehr bedeutet, als der Friede oder die Selbstzufriedenheit im Sinne von: "Ist halt unsere Kultur!" Mag sein, dass es unsere gegenwärtige Herzens-Kultur ist. Da ist gewiss was Wahres, das leider krank ist, dran, finde ich.
Hand auf's Herz: Werden wir einfach in unsere Kultur hineingeboren, die uns auf Jahrzehnte hinaus auf Herzenströchne und Distanziertheit zu unseren Nächsten festlegen soll? Soll unsere Kultur diese Macht über uns haben? Ein Leben lang? Und, wie bildet sich Kultur überhaupt? Sind es nicht u.a. stillschweigende, laufende Entscheidungen, die wir Menschen treffen, aus denen sich dann Kultur herausbildet? Ich fürchte, Kultur ist nicht einfach da, ohne dass wir etwas dafür könnten, dass sie ist wie sie ist! Wir tragen sehr wohl Mitverantwortung an ihrem Gewordensein und ihrem weiteren Werden.
Und noch etwas: Haben Menschen, die bewusst ein Leben mit Gott führen wollen, nicht die allerbeste Möglichkeit, die tendenzielle Herzenskultur ihres Volkes mit der Herzenskultur von Jesus Christus zu vergleichen? Wir behaupten doch immer, dass Er unser Kompass ist. Niemand, wirklich niemand in der Schweiz könnte mir aktuell glaubhaft machen, dass unsere gegenwärtige deutschschweizerische Herzenskultur jener von Jesus Christus sehr nahe sei. Was heisst das für mich? Wir haben dringenden Lernbedarf, unsere "Prioritätenliste des Lebens" neu zu überdenken. Denn Jesus Christus soll und will unser Vorbild sein. Nicht Vater Staat. Es wäre wunderbar, wenn der eine oder andere Leser ganz neu zu überdenken beginnen möchte.
Letzten Samstagabend sassen wir zu 5 1/2t (Lilius Frau Viola ist grad mitten in der Känguruhbeutel-Phase Lächeln) in unserem Wohnzimmer. Da stellte Lilius die etwas scheue Frage (schliesslich kennt er die Schweizer Kultur ein wenig), ob sie nicht anderntags rümänische Freunde in Zürich besuchen könnten, oder ob diese vielleicht auch zu uns kommen dürften? Es sei zwar etwas kurzfristig, aber ... Wie gut, wagten sie zu fragen! Keine Frage für Gefährte und seine Taube. "Nur zu, schreibt ihnen, sie seien herzlich willkommen bei uns!"
Was war das für ein unbeschreiblich herzwarmer, mega fröhlicher Sonntag, der uns allen dann geschenkt wurde! Kann es nicht in Worte fassen, was wir alles zusammen erlebten. Nicht nur äusserlich. Es war einfach - wie FAMILIE! Unsere Gäste waren am Ende des Tages nicht ganz sicher, ob Gefährte und ich wirklich - SCHWEIZER seien?
Vom Gottesdienst heimkommend, steuerten weisse Lilie, Viola und ich in die Küche. Weisse Lilie übernahm ganz selbstverständlich die organisatorische Regie, sodass jedes von uns Weiblein wusste, was es zum baldigen Mittagessen beitragen soll. Im Nu war ein feines Essen auf dem Tisch. Kein Stress, keine Hektik in der Küche - "nur" lauter Fröhlichkeit und Vorfreude auf den Besuch! Lilius verzog sich in den Keller, in unseren noch nicht fertig eingerichteten Gebetsraum, wo seit kurzem ein IKEA-Doppelbett darauf wartete, zusammengesetzt zu werden. Da wollte er weiterfahren. Gefährte nahm sich dem Tisch decken und Grillieren der Pouletstücke an. Bald klingelte es an der Haustür - das junge rumänische Ehepaar stand da. Das ganze Mittagessen war begleitet von tiefem Frieden, von gegenseitiger Achtung, Liebe, Interesse und Freude. Auch Offenheit. Und natürlich war es wunderbar, dass auch das Essen wunderbar war!
Mit der Idee, die ganze Mannschaft zum Zvieri aufs Parpaner Rothorn einzuladen, konnten wir allen Rumänen eine grosse Freude machen. Es war der letzte Tag der Wintersaison, an dem die Bahn bis auf den Gipfel fuhr! Das Wetter war traumhaft obendrein! Als wir zurückkamen, verschwanden Lilius und sein Freund sehr bald im Keller unten. Abends stand das IKEAbett bereit - für neue Gäste ... Auf die warten wir noch.
Nie werde ich einen solchen Tag der Gemeinschaft vergessen. Auf dieser Spur will ich bleiben. Der Spur, auf der Gemeinschaft zuerst kommt oder zuoberst steht. Egal, wie schwierig das in der Schweiz dann und wann zu realisieren ist. Für mich gibt es nichts Lohnenderes, nichts Wertvolleres.
Ja, was hätten wir schon alles verpasst, wenn wir nicht bereit gewesen wären, letzten November weisse Lilie bei uns aufzunehmen wie eine Tochter. Gnade, einfach ganz viel Gnade wiederfährt uns unterwegs mit ihr. DANKE HERR!
Hans-Joachim Eckstein: Möge Gottes Segen mit dir sein
https://www.youtube.com/watch?v=DYD5mwmuxKQ
Kommentar schreiben