Sie hat es mir erzählt: Ihre Tochter hatte sie besucht. Völlig überraschend. Nach langen Monaten der Ungewissheit, ob Tochter überhaupt noch lebe, freute sie sich mächtig an dieser Kursänderung im Heute und Jetzt. Denn Tochter stand nicht rebellisch vor der Haustür - und Mutter wollte sie gern so weit wie nur möglich für sie öffnen. Auch jene an ihrem Herzen. Die beiden umarmten sich innig. Nicht nur drei Sekunden lang.
Eigentlich hätte Mutter in einer halben Stunde zum Friseur gehen müssen. Aber ach, das konnte gewiss geregelt werden. Sie würde halt den verpassten Termin bezahlen, wenn das gewünscht würde. Jetzt gab es Wichtigeres, als eine salonfähige Frisur ...
Bald sassen die beiden Frauen im Garten unter der schattenspendenden Buche. Bei homemade Holunderblütensirup - den liebte Tochter besonders - und Aprikosen-Jalousien. Gottesartig, dass Mutter diesen Morgen gebacken hatte.
Tochter fing zu erzählen an. Offen, ehrlich, da und dort ein bisschen mit Anklage gemischt, jedoch ohne Spur von Rebellion. Diese Mischung war für Mutter gut verträglich. Nach dem vierten Kind gehörte sie gewissermassen zu den Trainierten. Sie nahm sich vor, Tochter möglichst keine Fragen zu stellen, die sie in die Enge treiben könnten. - Ja, sie habe diese Zeit gebraucht, fuhr Tochter weiter. Nein, nicht alles daran sei easy gewesen ... oh, das nun wirklich ganz und gar nicht. Trotzdem gut, auch wenn nicht alles gut daran war, fand sie. Mutter hörte aufmerksam zu und stellte fest: Das Kind, das sie vor 21 Jahren unter ihrem Herzen trug, war reifer nach Hause gekehrt als es gegangen war ... Ihr Herz war voller Dank, dass Tochter einigermassen unversehrt, so schien es ihr, nach Hause zurückgekehrt war. Auch wenn sie Spuren entdeckte, die offensichtlich nach Heilung riefen. Wer hat die nicht? Nein, nein, sie rechnete nicht damit, dass Tochter wieder zuhause wohnen möchte. Dazu war sie realistisch genug - und auch ganz einverstanden. Wenn die Zwanzigergrenze mal überschritten ist, wird es irgendwann Zeit, das Elternhaus zu verlassen, fand sie. Nur - vielleicht nicht gerade so heftig, wie ihre jüngste Tochter das tat. Zu diesem Schmerz musste sie stehen. Tochter 4 hatte immer den Hang zum Extremen. Mutter sah das auch positiv. Wirklich! Sie studierte ihren kleinen Rebellen aufmerksam - und lächelte.
Sie sassen gewiss schon drei Stunden im Garten. Da zog ein Gewitter auf. Zu erz$ählen gab es viel, auch auf Mutters Seite. Vom Katzennachwuchs über den Einzug der neuen Nachbarn bis hin zu Vaters neuer Arbeitsstelle. Das erste Krachen am Himmel unterbrach ihre angeregte Konversation. Schnell machten sie den Gartensitzplatz sturmtauglich und nahmen ins Haus, was Schutz brauchte. Auch sich selbst. Schon ging's drinnen in der gemütlichen Sitzecke weiter.
Kurz bevor Tochter sich zum Gehen bereit machte, kam's: "Ach ja, ich habe in zwei Wochen einen Termin in der "Tatoo-Stube". Ich weiss, dass dich das nicht freuen wird. Aber ich habe mir gut überlegt, was ich mir unter die Haut stechen lassen möchte ..." Wortreich erklärte sie ihre Beweggründe und anderes mehr.
Mutter hörte einfach zu. Das gewählte Sujet - es löste Hühnerhaut bei ihr aus. Ja, sie nahm den Schmerz deutlich wahr, den der neue Entscheid ihrer Tochter bei ihr auslöste.
"Weisst du denn nicht, meine Tochter, wie viele Menschen die Sujets schon bereut haben, die sie sich so definitiv unter die Haut malen liessen? Und weisst du, ich habe so die dumpfe Ahnung, dass Tatoos, vielleicht nicht jede Sorte, wie eine Art Magnetfeld für die Mächte der Finsternis sind. Willst du das wirklich riskieren?"
Aber das dachte sie nur - und wollte sich am anderen freuen: Heimgekehrt. Freiwillig. Ein erster Besuch. Ohne Streit. Der sicher nicht der letzte gewesen sein wird ...
Song von Don Moen: God will make a way
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