Nun bin ich nach spannender Fahrt durch afrikanische Schleichwege und Gebiete, auf denen mir das Leben hier sehr nahekam, wieder oben auf dem Prayer Mountain angekommen. Zusammen mit vier fröhlichen Afrikanern wurde ich im Pick-Up auf den Berg zurückgebracht. Wir hatten es sehr lustig, aber auch ernst auf der Fahrt. Beides ist unterwegs mit Afrikanern möglich. Die Zeit im Tal hat sich gelohnt, auch wenn ich mich hier oben mehr zuhause fühle.
Es bewegt mich vieles hier in Afrika. Das einfache Leben hier - der übergekippte Wohlstand zuhause, der sehr einschläfernd wirken kann. Die Herzlichkeit der Afrikaner - und die oft erlebte „Furztröchni“ vieler in der Schweiz Geborenen. Die viele Zeit, die Menschen hier miteinander verbringen - und das mühevolle Suchen nach Zeitfenstern, in denen wir Menschen im geschäftigen Europa doch noch irgendwie Beziehungen pflegen können. Mir ist klar: Letztlich kann man die beiden Lebenswelten nicht miteinander vergleichen. Es gibt in beiden Pros und Contras. Und doch glaube ich, dass wir Westeuropäer in Sachen Herzgeschichte doch einiges von den Afrikanern lernen könnten. Auch innerhalb unserer geschäftigen, in mancher beruflichen Hinsicht straff vorgegebenen und irgendwie ver-rückten Lebenswelt. Nichts desto Trotz.
Es war ungewohnt erstaunlich: Wie schnell gehörte ich auf dem Prayer Mountain zur "Familie vor Ort"! Vermisste die Crew von oben unten im "Land of Hope" schon, obwohl ich auch dort sehr viel Herzlichkeit und Wärme erfahren habe. Die Anlage ist einfach sehr viel grösser dort unten. Kein Wunder, geht es hier oben familiärer zu und man ist im Nu Teil der Gemeinschaft. Wenn ich daneben bedenke, dass Gefährte und ich sieben Jahre Geduld haben mussten, bis wir uns nach unserem Umzug ins Bündnerland in der christlichen Gemeinde auf- und angenommen fühlten … Dies kam im Grunde erst durchs Mitarbeiten zustande. Vermute, das hätte uns an x andern Orten genauso passieren können. Doch Hand aufs Herz: Müssen wir Westeuropäer tatsächlich erst mal was leisten, um auf-, wahr- und angenommen zu werden? Sind wir einfach so auf Leistung getrimmt? Auch in unseren christlichen Gemeinden und Kirchen? Schon Fragen, denen ich hier nicht ausweichen kann. Sind denn die Lasten und Aufgaben, die wir in unseren Familien und Berufen zu tragen haben, so gross und schwer, dass daneben nur noch sehr wenig Platz hat? Oder genügen wir uns einfach selber viel zu sehr? Glauben wir, einander nicht nötig zu haben? Ist uns das Gebot, „Ein jeder trage die Last des andern“ zu anspruchsvoll, zu schwer, zu sehr Leben durchkreuzend? Und was machen wir mit der unmissverständlichen Aufforderung Jesu:
Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.
Johannes 13/34-35:
A new commandment I give unto you, that you love one another; as I have loved you, that you also love one another. By this shall all men know that you are my disciples, if you have love one to another.
Das ist nicht einfach ein netter, vernünftiger Wunsch von Jesus Christus an uns, Seine Nachfolger. Es ist wirklich sehr viel mehr: ein Gebot, sein Herzensanliegen. Keine Möglichkeit, zu der wir genauso gut ja, wie nein sagen können. Natürlich werden wir nicht dazu gezwungen. Doch, wollen wir Jesu Jünger sein, dann ist diese Lebenshaltung total verbindlich für uns. Wo immer wir in diese Lebenshaltung hineinwachsen, sie mehr und mehr zu unserer Natur wird, liegt Jesu Versprechen drauf: „... dann wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt!“
Liebe ist keine Idee. Nicht einfach ein toller Gedanke. Es ist Leben in Aktion – was nun mal Zeit und Herz erfordert. Das Gebot gilt nicht nur den Afrikanern oder Rumänen oder ... Es gilt weltweit. Keine Nation, auch nicht die furztrockenste, kann sich da herausnehmen und sich mit ihrer Kultur entschuldigen. Orientierungspunkt bleibt für jede Nation das lebendige Herz Jesu. Deshalb schrieb ich weiter oben, dass wir in Sachen Herzgeschichte von den Afrikanern lernen können – weil sie diesem Gebot Jesu meiner Vermutung nach in ihrem Alltagsleben einiges näher sind als wir abgeklärten, aufgeklärten, sehr verständigen, darauf vielleicht sehr stolzen Westeuropäer. Ich meine, es ist verkümmertes und verkrümmtes Christenleben, wenn unsere Herzen zu verrosten drohen und in Beziehung zu unseren Nächsten einigermassen blind und ungelenkig werden. Wir limitieren Gott dadurch in Seinem Wirkungskreis durch uns.
Ich trage unseren Gemeindegliedern nicht nach, dass man uns in unserer grossen Not ziemlich alleine liess. Das ist verziehen. Wie gesagt, hätte in x andern Gemeinden genauso ablaufen können. Wir sind ein ziemlich distanziertes Volk. Doch angesichts der Erfahrung, dass ich hier auf dem Prayer Mountain nur KOMMEN brauchte, nur DA sein „musste“, um herzlich auf- und angenommen zu sein, denke ich halt nochmals über diese diametral auseinander laufenden Erfahrungen nach. Und ich möchte davon lernen. Möchte Herzmensch sein. Denn es macht mich sehr nachdenklich zu erfahren, wie sehr wir in Westeuropa Intellekt und Verstand auf einen Thron setzen, der ihnen nicht gebührt. Menschen, die ihre Emotionen nicht einkerkern, werden bei uns zuhause nicht selten belächelt. Verstand ist das was zählt, meinen wir. Und davon kann man nie genug haben, denken wir. Gott aber belächelt jene nicht, die ihr Herz spüren und reden lassen, sich auch vom Herzen her lenken lassen möchten. Jesus Christus ist selbst das eindrücklichste Beispiel dafür. So jedenfalls verstehe ich das. Nein, Verstand war im Leben Jesu nicht abwesend. Wenn ich aber die Evangelien lese, wage ich zu behaupten, dass Sein Herz eindeutig die höhere Priorität als der Verstand hatte. Dem Verstand nach hätte Jesus zum Beispiel kein einziges Wunder an einem Sabbat wirken dürfen! Total unvernünftig, ja höchst gefährlich für Ihn! Das wusste Er! Besser als alle anderen um Ihn herum. Es war mit Sicherheit Sein Herz, das Überhand und Mitgefühl hatte und den Rahmen der Vernunft sprengte! Die Jünger sprachen ihn immer mal wieder auf der Schiene der Vernunft an. Etwa, als die Kinder zu Jesus wollten (Matthäus 19/13-15), oder bei der blutflüssigen Frau (Markus 5/25-34). Oder als eine Frau ein ganzes Alabasterfläschchen voll kostbarem Salböl über Jesu Haupt goss (Matthäus 26/6-13). Auch die Schriftgelehrten und Pharisäer waren (und sind es wohl oft auch heute noch) überaus Vernunft gesteuerte Menschen, die Jesus fast ausnahmslos vom Kopf her begegnet sind. Etwa da, als es sie wunder nahm, in welcher Vollmacht Jesus all Seine Wunder tat (Lukas 20/1-8). Schlaue Füchse - jedoch herzlos, wenn man tiefer blickt. Jesus aber folgte immer dem, was Sein Herz Ihm sagte und Seine Herzensaugen sahen - und koste es Sein Leben. Das war immer das, was Er vom Vaterherzen Gottes empfing. Jesus war durch und durch Herzmensch und Herzgott. Letzteres ist Er bis heute. Aber ja, Er ist auch Wahrheit, und das hat auch mit Verstand zu tun.
Das haben Gefährte und ich in unserer christlichen Gemeinde über Jahre anders erlebt. Die Zeit der offen transportierten Not damals mit unserem Haus hat keine Nähe zwischen einzelnen Gemeindegliedern und uns bewirkt. Wir empfanden eher das Gegenteil. Vielleicht war das offene Transportieren von Not eine Überforderung für manche? Ungewohnt, weil viele von uns die persönlichen Nöte vielleicht doch lieber hinter den Vorhängen ihres Herzens verbergen? Und natürlich weiss ich nicht, wie viele Menschen uns im Gebet getragen haben. Aber es kam kaum jemandem in den Sinn, uns das mitzuteilen und beherzt nachzufragen, wie es uns geht. Einmal anzurufen, geschweige denn (ausgenommen ein Besuch von zwei Leitenden), uns mal zu besuchen, was doch alles gestärkt und befriedet und einem das Gefühl von Zugehörigkeit vermittelt hätte.
Ich denke nicht deswegen darüber nach, weil es damals um uns ging. Könnten gerade so gut andere Menschen und ein anderes Thema sein. Es geht mir um etwas Grundsätzliches, um eine wirklich ernsthaft überdenkenswerte Tendenz, die auch in unseren christlichen Gemeinden nicht Halt macht. Ich bedaure das. Es geht mir - inmitten eines sehr beladenen, von vielem bewegten Schweizer Alltags - allgemein um die Gefahr unseres Unbeteiligtseins am Nächsten, was Gott unter Seinen Kindern aus meiner Warte sicher nicht meint. Denke darüber nach, wie es auch bei uns zuhause möglicher werden könnte, den Regungen des Herzens mehr Priorität geben zu wagen, als dem vielgelobten, vielgeehrten, vielleicht sogar vergötterten Verstand … Kann dabei nur bei mir beginnen. Ich muss meinem Herzen begegnen wollen, all seinen Freuden genauso, wie seinen Schmerzen, muss sie fühlen wollen, nicht ausweichen - und dann wird möglich, was ich in 2. Korinther 1/3-4 lese:
Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Erbarmungen und Gott allen Trostes, der uns tröstet in all unserer Bedrängnis, damit wir die trösten können, die in allerlei Bedrängnis sind, durch den Trost, mit dem wir selbst von Gott getröstet werden.
Mir kommt gerade eine Passage aus einem Buch von Ann Voskamp (One thousand gifts – Devotional) in den Sinn. Ich zitiere:
Ein sehr bekannter Pastor wurde einmal gefragt, was sein tiefstes Bedauern seines Lebens war?
„Immer in Eile zu sein“, war seine Antwort. „Bereits beim nächsten zu sein, ohne mich wirklich ganz auf das eingelassen zu haben, was noch direkt vor mir lag. Ich kann mich an keinen einzigen Vorteil erinnern, den es gebracht hätte, immer in Eile zu sein. Aber tausend zerbrochene und verpasste Dinge, zehntausende, sind die Folge von solcher Hetzerei. Durch all diese Hast dachte ich, würde ich Zeit gewinnen. Doch es war ganz anders, ich warf sie weg ...“ (Mark Buchanan)
Was will ich aus meinem geschenkten Leben machen?
Für mich ist irgendwie noch klarer als vor meiner Ugandazeit, dass ich die Zeit der Pensionierung nicht einfach so typisch durchschnittlich westeuropäisch verbringen möchte (Okay: das ist vielleicht, wie nun jahrzehntelang gehabt, bis in ein paar Jahren für niemanden mehr möglich … ?). Diese Sicht wird durch den Aufenthalt hier nur bestärkt. Wünsche mir sehr, dass Gott Gefährte und mich einzeln und zu zweit step by step führt, lenkt und leitet, an Aufgaben heran, die nach Seinen Gedanken auf uns zugeschnitten sind. Aufgaben, durch die Er Frucht wirken kann für die Ewigkeit. Aufgaben, die mit dem, was Er in uns wachsen und gedeihen liess, irgendwie zusammenhängen im Sinne von: nach der Tränensaat die unter Seiner Gnade gereiften Früchte oder Schätze austeilen. Schätze hat man nicht, um sie zu besitzen. Schätze werden einem anvertraut, um weiter davon auszuteilen. Sinn des Lebens. Gott weiss, wo und wie wir unsere Schätze am besten weitergeben können. Das jedenfalls ist mein tiefer Wunsch, den Gott ganz gewiss mit mir teilt.
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