... Liebe, Akzeptanz und Willkommensein
Heute wird's ein bisschen viel Hirnjogging ... Ich ermutige zum Dranbleiben und weiter Nachdenken.
Ich meine, wenn es um Grundbedürfnisse des Kindes geht, tun wir gut daran, bei der schöpfungsgemässen Ordnung zu bleiben. Uns an Dem zu orientieren, der uns erfunden hat. Seinen Gedanken zur Entwicklung eines Menschenkindes nachzuspüren. Alles andere erachte ich als unverantwortlich. Unser Erfinder ist im wahrsten Sinne des Wortes der Profi. So können uns Antworten auf die primäre Sinnfrage:
„Als was und wozu ist der Mensch geschaffen worden“,
darüber wertvolle Hinweise und Auskunft geben. Das jüdisch-christliche Menschenbild gilt heute zwar für viele als antiquiert. Ich halte es für total zeitlos und Kultur unabhängig. Modernes vergeht, Zeitloses bleibt. Qualität und Zeitlosigkeit sind oft zwei Schuhe des selben Paares. Dieses solide Schuhwerk betrachte ich als dienliches Hilfsmittel unterwegs zur Lebenstauglichkeit des Kindes. Schuhe, in denen es einst weite Wege -inklusive Durststrecken - durchstehen soll, findet das Kind ab Geburt nur in Abhängigkeit von verantwortlichen Eltern/treuen Begleitern. Später tritt an ihre Stelle im guten Fall Gott, unser Erfinder. Die nie versiegende (und nie versagende) Quelle von Liebe und Kraft, ohne die wir vertrocknen.
Bevor wir eine Ahnung davon haben können, wie das Grundbedürfnis nach Liebe, Akzeptanz und Willkommensein gut genug gestillt werden kann, will ich mich mit der bereits oben gestellten Frage befassen: Als was wird der Mensch geschaffen?
Wie mein Lieblings-Kinderarzt und Therapeut Donald W. Winnicott (1896-1971) oft betonte, wurde und wird der Mensch als eine Einheit von Leib-Seele-Geist erschaffen. Seine Entwicklung beginnt mit der Zeugung und dauert bis zum letzten Lebenstag. Seine Sicht und Überzeugung:
Menschliches Leben erstreckt sich zwischen dem Unlebendigsein vor der Zeugung und dem Unlebendigsein nach dem Sterben. Frage ist: Wie kann dieser Raum lebendige Fülle gewinnen, anstatt in depressiver Leere zu enden?[1]
Wenn man für das Kind sorgen will, muss man also die Umwelt schaffen, die die geistig-seelische Gesundheit und die emotionale Entwicklung des Individuums fördert. Wenn die Bedingungen gut genug sind, macht das Kind Fortschritte; wenn die Bedingungen nicht gut genug sind, bleiben diese Kräfte im Kind eingeschlossen und haben die Tendenz, es auf die eine oder andere Weise zu zerstören.[2]
Ich bin überzeugt: Wo Geist und Seele eines Kindes nicht gesund sind, schlägt sich das auch auf den Körper nieder. Davon schreibt Winnicott hier nichts, ist aber bestimmt in seinem Sinn. Jeder der drei Bereiche (Körper, Seele und Geist) hat seine besonderen Bedürfnisse, die in den ersten Lebensjahren (ja, bereits im Mutterleib) ganz besonders sensibel auf günstige oder ungünstige Lebensbedingungen reagieren. Kein Bereich sollte hinsichtlich seiner Bedürfnisse unterversorgt werden. Ist das der Fall, verliert die ganze Einheit ihre Balance. Je nach Mass der Unterversorgung kommt es zu kleinen oder eben sehr grossen Entwicklungsstörungen, die das ganze Leben bedrücken und den betroffenen Menschen vom Grundgefühl, geliebt, akzeptiert und willkommen zu sein, fernhalten können. Selbst dann, wenn er nach den prägenden misslichen Grunderfahrungen noch viel von Liebe, Akzeptanz und Willkomensein erfährt. Die prägenden Früherfahrungen können ihn trotzdem so sehr vom Grundgefühl geliebt und willkommen zu sein fernhalten, dass er sich gar nicht „wirklich“ fühlt. Denn sein Grundgefühl ist ein völlig anderes, dem er mehr glaubt, als der neuen Erfahrung.
Ermutigende Botschaft: Das muss nicht so bleiben! Wer im dazu reifen Moment traumatherapeutisch diese Verletzungen angeht, kann später noch erstaunlich viel Heilung der verletzten Seele erfahren. Kann dazu befreit werden zu glauben (oder es glauben zu wagen), wirklich geliebt und angenommen zu sein. Von Gott, wie von Menschen, die ihn längst schon lieben. Besonders dann ist die Heilungs-Chance sehr gross, wenn Jesus Christus mit im "Therapieboot" sitzt. Das bestätigen immer mehr Trauma-Therapeuten, die beherzt mit Gott unterwegs sind.
Noch einmal Winnicott:
Es gibt Menschen, die als Babys niemals „fallengelassen“ (im Stich gelassen) wurden und die insofern die besten Chancen haben, sich am Leben zu freuen und wirklich zu leben. Und es gibt Menschen, die traumatische Erfahrungen erlitten haben von der Art, wie sie gemacht werden, wenn der Säugling von seiner Umgebung fallengelassen wird. Menschen, die ihr ganzes Leben lang die Erinnerungen an den Zustand, in dem sie sich im Augenblick der Katastrophe befanden, mit sich herumtragen müssen. Sie haben sehr häufig ein Leben voller Stürme und Belastungen, vielleicht auch ein Leben in Krankheit vor sich.[3]
Wie bereits erwähnt: Das sich Einlassen auf eine Trauma-Therapie, hat die besten Chancen zur Heilung solcher tiefen und prägenden Verletzungen. Das ist natürlich ein Prozess - kein Event. Ein lohnender, wie die Erfahrungen zeigen. Ich erinnere kurz an den Autor von "Die Hütte", William Paul Young. Er liess sich mutig darauf ein. Ein langer Weg für ihn - und grosser Segen im Gefolge. Für sehr viele Menschen.
Wozu also wird der Mensch geschaffen? Ganz kurz zusammengefasst wie folgt:
„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand. Das ist das erste Gebot. Ein anderes aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“
Matthäus 22/37-39 (Elberfelder)
Darüber hinaus geht es im Leben jedes einzelnen Menschenkindes darum, über viele Entwicklungsschritte und zahlreiche Erfahrungen des Geliebtwerdens und Willkommenseins, seine speziellen Gaben und Grenzen (körperlich, seelisch und geistig) entdecken zu können. Letztlich darum, im Verlaufe des Lebens immer klarer zu sehen, welches der ganz bestimmte Platz, die ganz bestimmte Aufgabe eines Menschenkindes ist. Jener Platz, den es in seiner kleinen Welt gern und gut auszufüllen vermag. Jener Platz, an dem sich dieser eine Mensch wie ein Fisch im Wasser fühlt! Dieser Platz kann je nach Lebensphase ein anderer oder neuer sein. Oft, so denke ich, wird der nächste Platz in irgendeinem Zusammenhang mit dem letzten stehen. Leben ist Entwicklung. Ja, es geht im Leben darum, den eigenen Beruf, die eigene Berufung oder Berufungen zu entdecken. Ein so wichtiger Teil der Antwort auf die Sinnfrage! Dieser Platz hat wohl meist mit der ganz persönlichen Leidenschaft zu tun – die step by step wachgeliebt werden will. Von Menschen - und auf oft geheimnisvolle Weise auch von Gott.
Die zitierte Bibelstelle macht deutlich: Der Mensch ist geschaffen, um in Beziehung zu leben, zu Gott und den Menschen. Das ist des Menschen tiefstes Sehnen, ebenso tiefste Bestimmung. Aus diesen Beziehungen heraus wird es möglich, sich selbst und seiner Berufung schrittweise näher zu kommen. Um dieses Ziel so zufriedenstellend und erfüllend wie möglich erreichen zu können, ist es unerlässlich, dass des Menschen Grundbedürfnisse in frühen Kindheitsjahren so gut wie nur möglich gestillt werden. Nur wer bekommen hat, kann abgeben, austeilen und sich im Bild des andern erkennen – entweder als ähnlich oder auch ganz anders. Die Grundbedürfnisse bleiben lebenslang bestehen. Wer in den Jahren seiner Kindheit bestens versorgt wurde, trägt damit ein nirgends käufliches Kapital mit sich herum, auf das er in späteren, vielleicht kargeren Jahren zurückgreifen kann. Jean Paul drückt das so aus:
Mit einer Kindheit voll Liebe aber, kann man ein halbes Leben hindurch für die kalte Welt haushalten. (Jean Paul)
Winnicott fügt bei:
Kein Mensch, der sicher das Erwachsenenalter erreicht hat, hätte dies vollbringen können, wenn nicht zu Beginn seines Lebens jemand da gewesen wäre, der ihn oder sie durch die frühen Stadien der Entwicklung führte.[4]
Vergessen wir nicht:
Kein Mensch kommt liebesfähig zur Welt. Er lernt zu lieben, indem er von Anfang an geliebt wird. Sein Seelentank muss erst einmal gefüllt werden, damit er sich mehr und mehr selbst verschenken kann. Oder: indem er von seinen Eltern/Betreuern angestrahlt wird, wird das in ihm verborgene Strahlen zum Leben erweckt, herausgelockt. Anders entwickelt sich die Fähigkeit zu lieben nicht. Bei keinem Menschen. Keinem einzigen. Eine hohe Verantwortung. Nein, Kinder sind keine Projekte.
Im nächsten Beitrag will ich dann wieder praktischer werden 😉 . Bis dann haben interessierte Leser bestimmt über verschiedenes nachgedacht.
1 Winnicott, Donald W.; Die menschliche Natur. S. 22
2 Winnicott, Donald W.; Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. S. 83
3 Winnicott, Donald W.; Der Anfang ist unsere Heimat, S. 35
4 Winnicott, Donald W.; Der Anfang ist unsere Heimat, S. 160
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