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Alles hat zwei Seiten

Gedanken zum Wortbild *10* (siehe Adventskalender)

 

"Aussen fix und innen nix!" Dieses kurze Sprichwort kenne ich von Kindsbeinen an. Ebenso seine Bedeutung. Auch, dass aussen nicht immer dem Innen entspricht, so wie es Jesus Christus den Schriftgelehrten nicht gerade zimperlich vor Augen malte und zum reiflichen Bedenken gab:


Mt 23,25 Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr die Becher und Schüsseln aussen reinigt, innen aber sind sie voller Raub und Gier!

Mt 23,27 Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr seid wie die übertünchten Gräber, die von aussen hübsch scheinen, aber innen sind sie voller Totengebeine und lauter Unrat!

Mt 23,28 So auch ihr: Von aussen scheint ihr vor den Menschen gerecht, aber innen seid ihr voller Heuchelei und missachtet das Gesetz.


Ich kann mich gut erinnern, dass ich im Primarschulalter einem Gespräch beiwohnte, in welchem ein Erwachsener erklärte: „Wenn ihr wüsstet, wie es in mir drin aussieht, könntet ihr mich nicht mehr lieben.“ Diese Aussage stiess mich ziemlich vor den Kopf und ging auch nicht an meinem Herzen vorbei. Irgendwie glaubte ich sie auch nicht. Vergass diese Worte aber nie mehr und habe in der Folge über Jahre oft darüber nachgedacht, wie schrecklich es sein müsse, wenn das Innen eines Menschen nicht ungefähr dem entsprach, was von aussen und von anderen wahrgenommen wird. Für mich, das stand damals fest, wäre es unerträglich, so zu leben. Es war mir nicht klar, dass ich mich bereits in jungen Jahren mit dem heute viel diskutierten Thema „authentisch leben“ auseinandersetzte und früh beschloss, mein Innen möge sich nicht wesentlich von meinem Aussen unterscheiden. Weder charakterlich, noch in meinem rein äusserlichen Erscheinungsbild, was Kleidung, Frisur etc. betrifft. So jedenfalls entschied ich mich einige Jahre später fast automatisch. Für mich folgerichtig. Ich spürte deutlich, wie konfliktreich das für mich werden würde, wenn Menschen meines Umfelds mich sehr anders kennenlernen würden, als ich mich selber kenne. Wie unvollständig auch immer. So wuchs der tiefe Wunsch in mir, so zu leben, dass ich greifbar für andere bin. Fassbar könnte man vielleicht auch sagen. Ein Mensch zum Anfassen. Ein Mensch mit Kopf und Herz, den man kennenlernen kann, der einigermassen berechenbar ist, sodass andere Menschen wissen können, woran sie sind bei ihm. Ja, dass ich ihnen die Chance geben möchte, mich so zu kennen, wie ich mich selbst zu kennen glaube. Hiess also nichts anderes, als ziemlich transparent zu leben.

 

Während meiner Ausbildungszeit zur Lehrerin wurde ich dann zum ersten Mal von einem Mitstudenten angesprochen: „Denkst du nicht, dass dich dein Lebensstil ganz schön angreifbar macht?“ Ich habe diesen Satz nie vergessen – weil ich damals ganz einfach nicht begriff, was mein Kollege damit meinte. Für mich war mein Lebensstil ja das Normalste auf der Welt, und ich nahm an, die meisten Menschen hätten dieselbe Entscheidung getroffen wie ich. Denn was bringt es schon (ausser Verwirrung), das Leben wie eine Theaterbühne zu betrachten, auf der dann jeder und jede seinen Mitmenschen seinen „Ich-möchte-gern-Masken-Ball“ vorspielt? Meinen Kollegen tiefer nachzufragen, vergass ich in meiner leichten Verwirrung. Zwei, drei Jahrzehnte später aber erschloss es mir das Leben dann immer klarer, was er gemeint haben könnte. Leider auch, dass die Entscheidung, transparent zu leben, anderen Menschen eine unangenehme Macht über mir geben kann. Gerade weil dieser Lebensstil den, der ihn lebt, ziemlich berechenbar macht. Man weiss ja viel von solchen Menschen. Und Wissen ist für den Wissenden auch Macht. Solches Wissen muss sorgsam verantwortet werden können. Das ist nicht allen gegeben oder dazu sind nicht alle gewillt. Transparente Menschen sind tatsächlich immer angreifbar, weil es einiges zu greifen gibt an ihnen. Das macht auch schutzlos, erfuhr ich unsanft. Ja, das Thema "sich selber schützen" ist kein unwichtiges.

 

Transparent zu leben hat noch eine andere Seite, über die ich noch mehr nachdenken muss: Transparenz fordert andere Menschen heraus. Und das wollen nicht alle. Das mag nicht jeder. Das erfordert von mir im rechten Moment bei der richtigen Person Respekt und Zurückhaltung. Das herauszufinden  erfahre ich als recht grosse Herausforderung. Stolpere immer mal wieder über meine manchmal zu schnellen Beine. Viele Menschen möchten einfach in Ruhe gelassen werden. Tragen lieber Schutzpanzer und Masken. Das Darunter möge nicht aufgeweckt werden. Dieses Recht steht ihnen zu.

Menschen, die mir wohlgesinnt sind, schätzen meine Klarheit und Geradlinigkeit sehr. Allen voran Gefährte. Ein grosses Geschenk für uns beide. Wenngleich das nicht immer oberbequem ist; weder für ihn, noch für mich oder meine Freundinnen. Aber halt aufrichtig und echt. Echtheit fördert Beziehung, fördert Freundschaft, wenn ihr die Güte und gegenseitiges Vertrauen nicht fehlt. Rollen- oder Theaterspiel stehen dem immer im Wege.

 

Nun gibt es immer auch Menschen, die mir auf irgendeine Weise nicht sehr wohl gesonnen sind. Normal. Lebensrisiko, mit dem man sich am besten früh anfreundet. Keiner kann zum Wohle aller leben. Ist kein Freibillet für Unachtsamkeit! Aber nackte Tatsache. Solche Menschen können meine Transparenz mehr oder weniger heftig gegen mich verwenden, wenn sie wollen. Das habe ich ab Lebensmitte auch hart erfahren. Durch den gewählten Lebensstil öffne ich Menschen selbst die Tür dazu. Eine Erfahrung und Einsicht, die mir zusetzte und sehr nachdenklich machte. Seither lebe ich die mir im Grunde sehr liebe Echtheit des Herzens nicht mehr mit der selben Unbeschwertheit wie früher und weiss: Alles hat seinen Preis. Die Frage bleibt: Welchen bin ich bereit zu bezahlen? Was ist mir wieviel wert? Und in welcher Höhe? Wo lohnt es sich nicht, irgendeinen Preis zu zahlen? Ein lebenslanges Suchen und neu Abwägen.

 

Klafft innen und aussen weit auseinander – zahlt man den Preis des Schauspiels und der Oberfläche. Den Preis des inneren Konflikts auch, äusserlich nicht die Person zu leben, die man innendrin kennt. Dafür will und kann ich mich im Grundsatz nicht entscheiden. Bemüht man sich um möglichst viel Deckungsgleichheit von innen und aussen (jedenfalls von dem, was man bereits kennt), bezahlt man immer mal wieder damit, nicht gering verwundet zu werden. Zugunsten aber eines Lebens mit Tiefgang. Dabei will ich bleiben. So hart es dann und wann auch sein kann. Dazulernen muss ich folgendes: Es ist zu meinem und wohl auch zum Schutz verschiedener Menschen nötig, noch besser unterscheiden zu lernen, wo ich vorsichtiger mit meiner Transparenz umgehen muss. Erst im Himmel wird solche Vorsicht nicht mehr nötig sein, weil dort Angst und Verletzung kein Wohnrecht haben! Auf der Erde aber braucht es viel Weisheit, das Konstruktive vom Destruktiven unterscheiden zu lernen. Das ist ein langer, spannender, herausfordernder, nicht einfacher Weg, finde ich. Immer wieder neu. An Gottes Seite will ich ihn mutig und von Ihm ermutigt gehen.

 

Ich blende zurück zu Jesus Christus. Dem Menschenfreund. Seine absolute Echtheit und Wahrhaftigkeit, auch den Schriftgelehrten und Pharisäern gegenüber, hat ihn schliesslich die unvorstellbare Schrecklichkeit des Kreuzestodes gekostet. Der schliesslich zur grössten Gnade, die uns Menschen widerfahren kann, wurde. Kein vergeblicher Preis also ... auch wenn es zuerst total danach aussah! Auch wenn es keinen höheren gab, gibt und je mal noch geben wird, der von irgendwem bezahlt werden soll. Sein stellvertretender Tod für uns Menschen ist und bleibt das ultimative Preis-Maximum, das bezahlt werden kann! Eine Wahrhaftigkeit, Echtheit, Transparenz, gepaart mit tiefer Liebe zum Nächsten – die Milliarden von Menschen den Weg zum Himmel weist und öffnet! Wer diesen Weg geht, wird die Heimat im Himmel auch erreichen und ankommen - am allerbesten Ziel des Lebens.

 

ADVENT. 

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