· 

Warten aufs Neue Jahr

„In wenigen Stunden wird es Zeit für mich“, murmelte das Alte Jahr müde und matt vor sich hin, „Zeit zum Abschwirren. Von einem Moment auf den andern! Beim zwölften Glockenschlag. Ja, höchste Zeit für mich, und das ist gut so.“ Nach pausenloser Arbeit konnte es sich endlich einen freien Abend gönnen. Dafür war der 30. Dezember doppelt intensiv. Das Heute musste schliesslich sorgfältig vorbereitet werden. In der Höhe hatte es sich in eine Alphütte zurückgezogen. Auf dem Ofen fand es eine rote Zipfelmütze, die es sich freudig über die Ohren stülpte. Wie gut ihm dieses Stück Einfachheit gefiel! Davon gab es noch mehr hier: Schneeweisse Bergwelt! Vollmondnacht. Funkelnde Sterne, so weit das Auge reichte! Fernab vom turbulenten Treiben, in dem es 12 Monate lang an allen Ecken und Enden der Welt gewirkt hatte. Mit seiner Laterne, dem treuen, leuchtenden, stillen Begleiter.

 

„Wenn nur das Neue Jahr bald kommt! Gibt noch einiges zu besprechen heut' Nacht“, sprach das Alte leicht ungeduldig in die arvenwürzige Stubenluft hinaus. "Na, das wird schon werden, alle Jahre wieder!", fuhr es weiter und blickte hoffnungsvoll und zuversichtlich auf seine Laterne, die es auf den Boden stellte.

 

Wenig später sass das Alte Jahr entspannt auf der Ofenbank und liess alle vergangenen 365 übervollen Tage der Reihe nach an seinem inneren Auge vorbeiziehen. Wie hatte es doch am 1. Januar seine Arbeit voller Tatendrang und Kraft angetreten! Nie hätte es damit gerechnet, am Ende der Amtszeit in solchem Ausmass ausgelaugt zu sein. Ja, damals hatte es sich sehr verwundert, weshalb es von seinem Auftraggeber nicht gleich zwei Jahresrunden zu tun bekam? Aber dieser hatte nur gesagt: „Alles hat seine Zeit – und seine Kraft. Auch Du.“ Was für eine Beleidigung! Seine grossherzige Bereitschaft, mehr zu tun als gefordert, wurde einfach nicht gewürdigt. Aber jetzt, ja jetzt verstand es den Vater der Jahre besser als gut! Jetzt kannte es nur noch diese eine Sehnsucht: heimzukehren. Kein Fluchtgedanke. Nein: Auftrag erfüllt! Jetzt war erst mal Erholung dran!

„Was bin ich froh, dass heuer kein Schaltjahr ist ...“, kam es ihm befreiend in den Sinn. „Mir würde die Puste für den Zuschlag fehlen! Wie leicht sich auch Jahre täuschen können ...“, erzählte es halblaut sich selbst, legte seine Hände in den Schoss und lächelte in sympathischer Demut himmelwärts. So müde es auch war, aber das sah richtig stark aus! Ja, von den Täuschungen der Menschen, die zu vielen Enttäuschungen führten, hatte es in 12 Monaten deutlich mehr mitbekommen, als am ersten Arbeitstag erwartet. Nun, wenn man aus dem Himmel auf die Erde kommt, sieht ganz schnell alles völlig anders aus ...! Das Alte Jahr nun eben alt! Aber das war okay. Schliesslich war es Zeit für die Heimkehr. Plötzlich zog es die Augenbrauen hoch, was irgendwie schalkhaft aussah:

„Auch wenn man von der Erde in den Himmel wechselt, sieht ganz schnell alles völlig anders aus! Mit Abstand die einfachere Richtung als bei meiner Ordination ...“, lächelte das Alte Jahr und freute sich aufs Kommende. In seinem Herzen nahm es auch viele erfreuliche Erfahrungen mit Menschen mit nach Hause. Zum Beispiel gemeinsam spielen! Das war am Herrlichsten mit Kindern. Erwachsene verlernen das so leicht. Auch mit Kindern. Vielen wischte es die Tränen ab. Manchen verhalf es im Dickicht ihres Lebensdschungels, den Weg zum Himmel zu finden. Grössere Freude kannte es nicht. Einige von ihnen sind bereits dort. Das wird ein Wiedersehen geben! Das Alte Jahr fing zu schwärmen und zu träumen an! Etwas, das es sich 52 Wochen lang nicht erlauben konnte ... Aber halt, noch stand sein letzter Auftrag an! Nicht träumen, wach bleiben! Mit beiden Füssen fest auf der Erde stehen. Oder im Schnee. Bis zur letzten Amtssekunde! Sonst würde es am Ende noch die Ankunft des Neuen Jahres verschlafen. Was für ein Kardinalfehler, was für eine Katastrophe so ganz zum Schluss seiner Karriere! Die ganze Welt stünde still, weil das unverzichtbare Übergabegespräch zwischen den beiden Jahren im Schnee erfroren wäre ... Na ja, ein bisschen stiller stehen und ruhiger drehen würde der Welt nicht schaden, fand es.

 

Nein, es war nicht nur alt geworden, das Alte Jahr. Auch weiser, reifer, reicher, wie es gerade bewies.

 

Weisheit hatte es für die Begegnung mit dem Neuen Jahr sehr nötig. Kein leichter Auftrag, den es seinem Nachfolger schmackhaft zu machen hatte. Ermutiger wollte es sein. Oberstes Ziel, trotz grosser Müdigkeit. Da ist wahrhaftig Weisheit nötig! Ein Blick in den uralten Spiegel, der schief über der Ofenbank hing, zeigte ein erstaunlich frisches Gesicht, so richtig zum Anbeissen. Jedenfalls alles andere als alt ...

„Seltsam! Höchst merkwürdig! Mit Sicherheit keine Eigenleistung“, stammelte das Alte Jahr leicht verwirrt. „Wohl ein barmherziges Geschenk von oben – für meinen Nachfolger, damit er nicht schon im Februar wie ein Schirm zusammenklappt!“ Rosig sah es an vielen Ecken und Enden der Erde nicht aus. Jahre sehen hinter jede Maske und Kulisse. Die Laterne deckt alles auf. Da ist kein Platz für Illusionen.  Setzt grosse Tragkraft voraus. Oh doch, es gab sie noch, die Ecken voller Licht und Rosen, voller Hoffnung und Lebendigkeit! Fast überall auf der Welt. Das war ja gerade der Auftrag, mit dem die Jahre zur Erde geschickt werden: Gutes zu stärken, glimmende Dochte neu zu entfachen, Vertrocknetes zu neuem Leben zu erwecken. Stets in Augenkontakt mit dem ewigen Vater der Jahre - und mittels Laterne. So unverzichtbar diese war, sie blieb unsichtbar für die Menschen. Genau wie die Jahre. Können nur erlebt werden. Ja, überall Sehnsuchtswecker nach ewigen Werten und dem, der alles in grosser Sorgfalt und Liebe werden lässt - immer noch - sollen sie sein, die Jahre. Jedes auf seine Weise und in seiner Zeit. Natürlich haben sie nebst dieser übergeordneten Aufgabe noch anderes zu tun. In Firmen, Regierungsgebäuden, bei der UNO, in der EU, in Kriegsgebieten, im Vatikan und anderen kirchlichen Institutionen. Genauso in Single-Haushalten, in Familien und Ehen und solchen, die das einmal waren. Bei einsamen, verlassenen Kindern, in Schulen, Lehrbetrieben, Universitäten, Gefängnissen und Krankenhäusern, dort wo es welche gibt. Und schliesslich in Slums, die auf Erden zahlreicher sind, als sich das Alte Jahr zur Jugendzeit je hatte vorstellen können. Doch gerade dort war es oft sehr willkommen mit seiner Laterne. Auch bei den vielen wunderschönen Tieren, die ebenso ihre Portion Beachtung und Umsorgung brauchen. 

 

Immer wieder sah es den Vater der Jahre, wie er ihm vom Himmel her bei der Arbeit zunickte. Manchmal hob er auch nur lautlos seinen elefantengrossen Daumen. Unübersehbar! Oft in Momenten, da das Alte Jahr nicht damit gerechnet hätte – oder eher mit dem Gegenteil. Nun, dass der Vater der Jahre voller Überraschungen ist, wusste es aus der Zeit im Himmel. Insofern war es gut vorbereitet. Doch fast alle Herausforderungen kamen wie ein Überfall daher. Geht allen Jahren so. Setzt hohe und kompetente Reaktionsfähigkeit voraus. Nur durch die innige Verbundenheit mit dem Vater der Jahre konnte es alle einzelnen Tage, welche es von Nord- bis Südpol und vom östlichsten Osten bis zum westlichsten Westen rund um den Erdball führten, bewältigen. Nur so. Ja, ohne diesen Vater ginge da unten wirklich alles schief. Restlos ALLES. Das war dem Alten Jahr nun klarer als je zuvor. Viel klarer, oh ja! Mit diesem Vater zusammen zu arbeiten, war eine hohe Würdigung. Ein grosses Zutrauen auch. Der hat vielleicht Mut ...

 

Das Alte Jahr blickte auf seine Sanduhr. Bald würde es seine letzten Zeitkörner an die uralte, ziemlich mitgenommene Erde verschenken, auf der es auch viel Wunderbares entdecken konnte. Für ein einziges Mal wird es in Gemeinschaft sein. Mit dem Neuen Jahr! Wie ungewohnt! Wusste es noch, wie Gemeinschaft geht? Wird sich zeigen, wenn das Neue angekommen ist. Schon verrückt: Das hier waren die einzigen „Ruhekörner“, die es während 365 Tagen erlebt hatte. Der Vater der Jahre wünscht es sich so. Wird gute Gründe dafür haben. Es ist ratsam, ihm zu vertrauen. Egal ob man versteht oder nicht. Das Wichtigste ist, sich innig von ihm geliebt zu wissen. Vertrauen ist automatische Folge davon. Daran zweifelte das Alte Jahr nicht ein Sandkorn lang!

"Wie herrlich Ruheminuten sein können!", verwunderte es sich. Das hatte es in der Fülle seiner Aufgaben fast vergessen. Jetzt aber genoss es sie aus vollen Zügen. Oh, zuhause wird es sich schnell wieder dran gewöhnen, mehr zu sein und weniger zu tun als hier unten. Keine Frage. Ja, die Prioritäten auf Erden waren jenen in der Heimat so fremd, wie der Walfisch dem Kolibri. „Voll krass!“, konstatierte das Alte Jahr laut. Ein Ausdruck, den es vor 365 Tagen noch nicht kannte ... Jetzt musste es herzhaft lachen und schaute belustigt ins lodernde Feuer: „Auch Jahre sind anpassungsfähig! Jedenfalls teilweise.“

 

Es dachte noch ein Weilchen vergnügt nach, während es sich immer fester an den warmen Ofen drückte. Zwischendurch gähnte es herzhaft und wurde immer zufriedener dabei. Es war dankbar, seinen Auftrag erfüllt zu haben und ihn sehr bald seinem Nachfolger übergeben zu können. Seine Aufgabe wird die selbe sein. Umstände und Schwerpunkte werden neu, anders und immer wieder überraschend sein. Einmalig - oder einjährig eben. Für jedes Jahr das war, ist und noch kommen soll.

 

Nun schlug dumpf ein weicher Schneeball ans Stubenfenster. Das Neue Jahr stand strahlend und athletisch, wie ein Zehnkämpfer, wenige Meter davon entfernt. Dann flog es leise in die warme Stube hinein. Jahre können das. Angekommen! Wunderbar! Genau eine Stunde vor Arbeitsbeginn. Zeit fürs Übergabegespräch. Inhaltlich streng geheim. Das Alte Jahr fing das Gespräch mit einer sehr herzlichen Umarmung an – und hörte mit einer noch innigeren auf. Nein, es hatte nicht vergessen, wie gelingende Gemeinschaft "funktioniert" ...

 

Auch das Neue Jahre hatte eine Laterne dabei. Nur brannte kein Licht darin. Noch nicht. Denn die Wärme und Kraft, die diese Welt braucht, wird seit es Jahre gibt, vom Alten ans Neue Jahr weiter verschenkt. Stabübergabe. Nein, Lichtübergabe! Vom ewigen Licht des Lebens, das allein Menschen und Umstände zum Guten verändern kann. Von innen nach aussen. Nicht umgekehrt. Lichtübergabe. Von einer Kerze zur andern. Jeden 31. Dezember, um Punkt 00.00 Uhr ...

 

Eine Frage beschäftigte das Alte Jahr noch. Exakt um 23.59 Uhr! Diese wollte es unbedingt stellen. Nein, nicht dem Neuen Jahr. Die war für den Vater der Jahre gedacht:

 

 "Daddy, sag, war ich gut? Hab’ ich genug geschafft?"

 

Nun sah es die liebenden Arme des ewigen Vaters vom Himmel her sich nach der Erde ausstrecken. Genauer gesagt, nach ihm. Dann hörte es den Vater liebevoll ernst sagen:

"Ob Du gut warst, willst Du wissen? Ob Du genug geschafft hast auch?Zuviel, geliebtes Jahr. Ich bin mit weniger zufrieden als Du. Und auf Dein Gutsein habe ich nie eine Sekunde gewartet.


Hab jeden Tag nur auf eines gehofft: Dass mein liebender Blick Dich erreicht und Du aus ihm heraus Dein Tageswerk bewältigen kannst. Und dies hast Du ausgezeichnet gemacht 🌹🌹🌹! An keinem Tag Deiner Amtszeit habe ich Dich vermissen müssen! Das ist meine grösste Freude an Dir!


Den grossen Rest Deiner Arbeit überlass nun mir! Du kannst nicht säen und ernten zugleich. Und das Reifenlassen steht nicht meinen Jahren, sondern einzig und allein mir zu. Nun komm, wirf Dich in meine Arme, damit ich Dich behutsam nach Hause tragen kann, mein tief geliebtes, müdes, Altes Jahr! Ich mach Dich wieder jung und frisch! Danke von ganzem Herzen für Deine herzhafte Liebe ..."

 

Und weg war es. 

 

Alles, was das Alte Jahr auf der Erde zurückliess, war die rote Zipfelmütze. Denn was es auf Erden gewirkt hatte - reichte bis in den Himmel, mitten ins Herz des Vaters ... 

 

Text: Katharina Steiner

 

Lied: Quelle der Lebendigkeit (Elke Braun)

https://www.youtube.com/watch?v=IcLBNDtmOII

Kommentare: 0 (Diskussion geschlossen)
    Es sind noch keine Einträge vorhanden.