„Die Menschen haben keine Zeit mehr, irgend etwas kennen zu lernen. Sie kaufen alles fertig in den Geschäften…“
... beklagt der Fuchs in St. Exupérys Märchen vom kleinen Prinzen. Und mir fällt dabei das riesige Gebäude am Marktplatz in Basel ein, an welchem seit November 2004 in grossen Lettern zu lesen ist: „Interdiscount XXL“. Wow, gigantisch! Ich habe mich auch schon hineingewagt – und war danach der festen Überzeugung:
- XXL könnte treffender nicht gewählt sein, was das riesige Angebot rund um das Thema „Moderne Unterhaltungstechnik“ auf mehreren Etagen betrifft.
- XXL passt ebenso ausgezeichnet für die Beschreibung der Verwirrung und Orientierungslosigkeit, die einen befällt, wenn man sich diesem schier grenzenlosen Angebot technischer Geräte und ihren 1001 Zusatzangeboten gegenübersieht. Da hat man im wahrsten Sinne des Wortes „die Qual der Wahl“!
- Jedes dieser Angebote ohne Zahl muss auch irgendeinen Namen haben – fragt sich bloss welchen? Meine Begriffsstutzigkeit verzeichnet hier eine Lücke von - ja eben: von der Grösse XXL!
- XXL wird schliesslich auch grandios gut passen für das, was dann an den Kassen eines solchen Geschäftes bei Alt und Jung den Platz im Geldbeutel verliert.
Ja, wenn ich mich in einem solchen Kaufhaus bewege, werde ich angesichts der dichten, meist hektischen Masse hochinteressierter, kauffreudiger Menschen das eigenartige Gefühl nicht los, just in der modernsten Art „heiliger Hallen“ zu stehen, einer postmodernen Form von Kathedrale, unter deren Dach sich eine ganz neue Richtung von Religion am Entwickeln ist. Selbstverständlich keine andachtsvolle. Andacht erfordert Stille, die das krasse Gegenteil von „Interdiscount XXL“ darstellt. Immerhin eine, in welcher Bewunderung und so was Ähnliches wie Anbetung im Zentrum stehen. Meiner Vermutung folgend dennoch leider eine Richtung, die den Menschen mit seiner grossen Sehnsucht nach Lebenssinn und Bleibendem, nach etwas über ihn und diese Welt hinaus Weisendem, letztlich doch kläglich enttäuscht und sehr leer zurücklassen wird. Ein schrecklich modernes, kurzzeitiges Ablenkungs-manöver - von vielleicht Wichtigerem?
XXL, das ist die neue Kaufhauswelle, die für die heutige Zeit bezeichnenderweise im Gebiet der modernen Unterhaltungsmedien ihre Urraufführung feierte. Passender könnte das unseren Zeitgeist nicht widerspiegeln.
Nun wäre es durchaus eine Arbeit wert, diesen endlos vielen technischen Angeboten, von denen Herr und Frau Schweizer meist nicht einmal die Namen kennen, nachzugehen, um so dem normalsterblichen
Fussvolk einen klareren Überblick verschaffen zu helfen. Das aber trifft nicht mein Hauptinteresse, weshalb ich davon grosszügig Abstand nehme. Letztlich hängen all diese unzähligen XXL-Angebote
mit unserer grossen historischen Wende zusammen, die durch den Bildgerätevater „Fernseher“ eingeläutet wurde und durch seinen sehr viel flinkeren und
zweifellos hochbegabten Sohn „Computer“ in rasendem Tempo weiter voran-getrieben wird. Mein Hauptaugenmerk wird also diesen Geräten und dem, was sie unseren Kindern an Unterhaltung anbieten - und
wovon sie sie möglicherweise fernhalten - gelten. All die anderen Artikel solcher XXL-Häuser werden in meiner Arbeit nicht von Bedeutung sein. Sie
weisen an dieser Stelle höchstens darauf hin, wie leicht es heute ist, seine ganze, einem zur Verfügung stehende Lebenszeit ausschliesslich in der Welt der Technik zu verbringen und vielleicht
unmerklich und suchtartig an sie gebunden zu werden. Ich halte das ohne weiteres für wahrscheinlich. Süchte sind immer auch kulturell zu verstehen, daher in ihrem äusseren Erscheinungsbild
veränderlich. Inhaltlich bleibt Sucht, was sie immer schon war: eine fehlgeleitete Sehnsucht nach sinngebenden Antworten auf die Grundfragen unseres
Daseins, die gerade dieses stark gefährdet.
Ich vergesse nicht, dass sich das ganze Medienangebot auch an uns Erwachsene richtet und auch da nicht selten ganz Ähnliches bewirkt, wie bei Kindern. Aber meine Arbeit beschränkt sich auf das
Kind und seine Kindheit, deshalb rede ich meist nur davon.
Wie ich missverstanden werden könnte
Auch wenn ich mich in dieser Arbeit vorwiegend mit der Gefahr des Überkonsums der Angebote digitaler Medien und dem Fernsehen beschäftige, sage ich damit nicht, es sollte diese Medien nicht geben, man müsste dafür sorgen, das Rad der Zeit zurückzudrehen. Ich würde missverstanden damit. Diese Medien sind erstens da und haben zweitens auch ihre sehr geschätzten, willkommenen Seiten. Beim Schreiben einer solchen Arbeit kommt man vielfältig in den geschätzten Genuss davon. Aber das ist ein anderes Thema und nicht jenes, das mich am stärksten beschäftigt, wenn ich an die heutige mediendominante Kindheit denke, die Kindheit verkümmern lässt und nach Neil Postman sogar zum Verschwinden bringt. Eine These, die ich mit ihm teile. Moderne Medien stellen an die Reife eines Menschen eine hohe Anforderung, der viele, ganz besonders Kinder, nicht gewachsen sind. Diese Seite und Auswirkung modernster Medien ist es, die bekümmern kann und die Pädagogen nicht kritiklos und gedankenlos hinnehmen dürfen. Es gehört mit zu unserer vorrangigen Aufgabe am Kind von heute – und dessen Eltern – mindestens nach Wegen zu suchen, besser noch, auf solche hinzu-weisen, wo sie gefunden werden, die auch im Medienzeitalter einigermassen gewährleisten können, dass Kinder während ihrer Entwicklung zum schöpferischen, lebendigen Leben aufgeweckt werden, ohne dass sich ihre Seelen in Stumpfheit, Leb- und Lieblosigkeit und damit Sinnlosigkeit verirren. Diese Gefahr sehe ich leider auf uns zukommen – und sie ist ja schon dabei, sich auszubreiten.
Nicht auf die Anwesenheit oder Abwesenheit moderner Technik kommt es an, sondern darauf, wie wir damit leben, umgehen lernen und welche Priorität wir ihr geben. Wie und wozu wir sie einsetzen und gebrauchen, ohne durch sie versklavt, vereinnahmt, pervertiert, versachlicht – oder „verfunktionalisiert“ zu werden, was nichts anderes als ein Degradieren vom Menschen zum Roboter wäre. Alles, was es gibt auf dieser Welt, kann entweder sinnvoll gebraucht oder leidvoll missbraucht werden; wirklich alles, es sei Materie oder Leben.
Und so kommt es, dass der Hauptfokus meiner Arbeit auf dem unseligen Teil moderner Medien, und wie wir damit sinnvoll umgehen lernen können, liegt. Es würde das Ziel meiner Arbeit verfehlen und
den Umfang sprengen, wenn ich ihr noch ein Thema wie zum Beispiel „Der Segen moderner Medien“ widmen würde. Ich bin dankbar, dass es diese Seite der Medaille auch gibt, aber diese bekümmert
Pädagogen nun mal nicht – zudem wage ich zu behaupten, dass es sich beim Segen mindestens für die Phase der Kindheit um ein zweifellos schmaleres Kuchenstück handelt, als dies beim Missbrauch
moderner Medien mit ihrem grossen Verführungspotential, das diesen Medien nun mal innewohnt, der Fall ist.
Allgemeines zu „Freizeit - heute und
gestern“
Um zu mehr oder weniger verlässlichen aktuellen und „antiken“ Daten zum Thema „Freizeitbeschäftigung“ zu kommen, habe ich einen Fragebogen an 59 heutige Kinder der Jahrgänge 1991 – 1995 und ebenso einen analogen Bogen an 59 Kinder von gestern aus den 50er- und 60er-Jahren gerichtet.
Beide Bögen finden sich als Anhang am Ende von TEIL II. Daraus wird ersichtlich, welche Fragen den Befragten wie gestellt wurden. In der Auswertung kommen nicht ganz alle Fragen zum Zuge. Es galt, sich auf das Aussagekräftigste und hier Wichtige zu beschränken.
Es war mir wichtig, beide Generationen zu befragen, um so überhaupt feststellen zu können, ob sich im Freizeitverhalten von heute und gestern etwas,
wenn ja, was deutlich verändert hat. Die Auswertung war höchstinteressant, dann aber auch hinsichtlich der bevorzugten Freizeitbeschäftigung des
heutigen Kindes ernüchternd, was nicht überraschte.
Dass die meisten Fragebögen der heutigen Kinder zum Auswerten einiges weniger verlockend waren, als jene der älteren Semester, hat nachdenklich gestimmt. Es lag in rund drei Vierteln der Arbeiten eine lieblose Unsorgfalt, die sich schlecht beschreiben lässt. Dabei war es gestalterisch keine Kunst, den Bogen zufriedenstellend auszufüllen – allein die oft schwierig zu entziffernden Schriften liessen die Auswertenden nachdenklich zurück. Es kam exemplarisch zum Ausdruck, dass die Kinder von damals aus einem Kindheitsland stammen, in welchem dem Erlernen und Trainieren einer Handschrift - und dem Ausfüllen eines vorgedruckten Dokumentes - ein anderes Gewicht beigemessen wurde, als dies heute der Fall ist. Nun kann man einwenden, eine Handschrift sei heutzutage nicht mehr in gleicher Weise vonnöten, wie damals. Am PC genügten auch Adler- und Falkensysteme, um Texte verfassen zu können. Da ist ein Körnchen Wahrheit dran. Warum also nicht grosszügig den Wandel von der Hand- zur Tippschrift unterstützen? Ja, das kann man sich fragen.
Aber, ist eine Handschrift nicht vielleicht doch viel mehr, als das Aneinanderreihen von Buchstaben, damit ein Text weitergegeben und dann gelesen werden kann? Liegt in der Schrift nicht immer
auch etwas von der Persönlichkeit des Absenders verborgen? Hat Handschrift nicht genauso Sprache, wie der Körper oder die Mimik eines Menschen? Wenn dem so ist, vermute ich, dass Handschrift eine
weitere handfeste, griffige, kreative „Sprache“ ist, die vom Aussterben bedroht ist. Etwas sehr Persönliches und dadurch die Beziehung zwischen den Menschen lebendig Gestaltendes steht auf der
roten Liste. Wie fremd, abgekühlt und seelenlos müssen elektronische Liebesbriefe auf die Angebetete, den Angebeteten wirken….. Nun, darauf will ich nicht weiter eingehen, wollte es lediglich
anschneiden, weil durch das Verschwinden von Handschrift und Handgeschriebenem einmal mehr viel Persönliches verloren geht, das durch den grossen Feldzug moderner Medien ausgeläutet
wird.
Nun bin ich mir bewusst, dass ich aus der Kindheitslandschaft der 60er-Jahre stamme und diese herausfordernde Thematik mit einer Brille betrachte, die ein knappes halbes Jahrhundert Geschichte trägt. Eine Geschichte, zu welcher viele Werte gehören, die heute am Zerfallen sind. Es kann bei meinen Untersuchungen und Betrachtungen sein, dass ich dadurch zu einseitig beobachte, betrachte oder werte – eben, weil ich es auf dem Hintergrund dieser bereits gelebten Geschichte tue, deren Werte und Normen mir im grossen Ganzen bis heute kostbar und lebenserleichternd sind. Vielleicht werde ich dadurch dem Kind und der Kindheit von heute nicht genügend gerecht? Versuchen will ich es, indem ich mich immer wieder frage: Was braucht das Kind von heute für seine Zukunft von morgen denn so nötig? Kein Pädagoge kann sich um diese Frage drücken, auch wenn er weiss, dass das Antwortsuchen letztlich nur ein ahnungsvoller, lückenhafter Versuch bleiben wird, selbst dann, wenn es mit ganzem Herzen geschieht. Das gilt erst recht für eine so schnelllebige Zeit wie diese. Was die Autorin dieser Arbeit betrifft, bleibt es dabei: sie stammt aus dem Kindheitsland der 60er-Jahre. Das beeinflusst ihre Sicht des Kindes und der Kindheit von heute, auch die Auswertungsarbeit der Fragebogen.
Auf der andern Seite wird ihre Arbeit, wenn sie sich selber treu bleibt, unter Umständen zu einem wertvollen Zeitzeugnis eines zurückblickenden und
gleichzeitig auf heute blickenden Kindes der 60er-Jahre, das als erwachsene Person durch die rasante technische Weiterentwicklung, insbesondere im Bereich der Bildmedien, mitten in einem grossen,
epochalen Umbruch steht; gewissermassen auf der Schwelle, die zwei sehr unterschiedliche Welten voneinander
trennt. Das ist einerseits ein besonderes Vorrecht, auf der andern Seite manchmal auch eine nicht geringe Last. Diesen Umbruch gilt es einzeln und gemeinsam zwischen 0 und 99 möglichst Leben
fördernd zu bewältigen. Ich bin mir also der angesprochenen Gefahr und zugleich der vermuteten Chance bewusst. In dieser Spannung wird diese Arbeit geschrieben. Dass ich bedaure, dass unter dem
gigantischen Einfluss moderner Medien manch ein das menschliche und gesellschaftliche Leben fördernder, gesunder Wert am Zerbröckeln ist, wird immer wieder durchscheinen. Warum? Weil ich das
vermittelt Bekommen und das Leben dieser Werte zusammen mit vielen anderen aus der gemeinsamen Kindheitszeit bis heute als stützende und fördernde Schätze im Herzen bewahre. Was weniger wäre unserer Jugend zu wünschen – einrechnend, dass sie ganz eventuell in ihrer Zukunft nicht das
selbe brauchen wird, wie die 50er- und 60er-Kinder? Wer kann das letztlich wissen?
Konsum auf Kosten von Kreativität
Allgemein fiel auf, dass das persönliche, kreative Gestalten von Freizeit heutiger Kinder im Vergleich zur Ahnengeneration deutlich abgenommen, während konsumorientiertes Zeitverbringen, vorwiegend im Bereich moderner Technik, dementsprechend drastisch zugenommen hat.
Nun sind selbstverständlich die Kinder der 50/60er-Jahre nicht von besserer innerer Qualität, als die heutigen es sind. Sie wurden lediglich in ein materiell und technisch „ärmeres“ Umfeld hineingeboren, was wohl bis heute ihr grosser Reichtum ist.
Weniger ist mehr - das ist rückblickend die vielfältig gemachte Erfahrung der Kinder von gestern. Damit ist nicht gesagt, jede Art von Vermissen oder Mangel sei pädagogisch wertvoll. Ich rede von jener Tendenz, die in den unterschiedlichen Kindheitslandschaften einen Wandel von „Weniger ist mehr“ hin zur „Orientierungslosigkeit und Trägheit im Schlaraffenland“ abzeichnet, und welche sich in den vergangenen fünfzig Jahren immer schneller vollzogen hat und höchstwahrscheinlich nur immer schneller vorwärts treibt. Wie das aufgrund der Umfrage aussieht, füge ich in der Folge mittels beschreibender Diagramme an.
Es wurde untersucht, wie Kinder von heute und jene von gestern ihre Freizeit hinsichtlich 12 vorgegebener Tätigkeits-Rubriken allein gestalten oder gestalteten. Ich war bemüht, eine einigermassen breite Palette von Freizeitbeschäftigungen zusammenzustellen und habe aufgrund der Auswertung den Eindruck, dass mir dies recht gut gelungen ist. Im Diagramm 1 würde ich vielleicht rückblickend das Spiel mit Puppen/Stofftieren noch zusätzlich integrieren. Wo es möglich war, habe ich in einer Rubrik zwei einander ähnliche Tätigkeiten aus der tendenziellen Mädchen- und Knabenseite untergebracht.
Zusammenfassend ist hier folgendes festzuhalten:
- Auffallend und erfreulich ist, dass Zeichnen/Malen heute wie gestern mit je 26 von 59 möglichen Treffern nach wie vor eine beliebte Freizeitbeschäftigung ist.
- Auch der Umgang mit Tieren und das Geschichten/Gedichte schreiben lassen zwischen gestern und heute kaum eine Differenz im Beliebtheitsgrad, jedoch in der Höhe des Grades von 10:8 für Kinder von heute erkennen.
- Bis auf’s Erfinden/Tüfteln ist ersichtlich, dass sämtlichen handwerklichen Tätigkeiten früher eindeutig beliebter waren als sie es heute sind.
- Erstaunlicherweise stiess ich beim heutigen Kind auf unerwartet viele Leser. Gleichwohl lasen früher mehr Kinder: 32:46
- Das Briefeschreiben war/ist in beiden Epochen nicht gerade in höchstem Kurs. 11:21 entscheidet diese Rubrik trotzdem klar für gestern.
- Wer auf die Rubrik Musizieren blickt, stellt im Vergleich zu gestern einen deutlichen Rückgang von fast 50 % des Erlernens und Spielens eines Instrumentes fest.
- Wie erwartet schlagen die Türme bei den technisch geneigten Rubriken am wildesten aus. Musik-/Radiohören war offenbar schon gestern für rund die Hälfte der Kinder recht beliebt. Im Verhältnis 47:26 entscheidet diese Beschäftigung aber eindeutig für das Kind von heute.
- Das Sorgenkind Fernsehen/PC/Playstation ist einsame Spitze in Bezug auf die Differenz zwischen den Kindern von heute und gestern. Zu beiden Zeiten existierte das Fernsehen bereits. Der Computer nicht. Vielleicht hätte ich diese Rubrik aufteilen müssen, um allein das Fernsehen vergleichen zu können? Ich tat es nicht, da es sich um eine der Sache nach sehr ähnliche Beschäftigung handelt. Viel extremer könnte hier das Ergebnis nicht mehr auseinanderklaffen: 54:5 entscheidet es sich überdeutlich für die Kinder von heute. Das heisst, eine Arbeit wie diese wird nicht umsonst sein!
Vom Aussterben bedrohte Beschäftigungen…
…in „Freizeit allein“ würde ich all jene nennen, die von 59 möglichen Treffern keinen Viertel (15) erreicht haben. Darunter fallen demnach, schön der Bedrohungsgefahr folgend:
1. Nähen/Stricken/Häkeln
2. Bauen/Konstruieren
3. Geschichten/Gedichte schreiben
4. Briefe schreiben
Was vermutlich auch künftig Hochkonjunktur haben wird, lässt Abbildung 1 unzweifelhaft annehmen.
Im Aufschwung liegende Beschäftigungen sind dann:
1. Fernsehen und PC-Spiele
2. Musik-/Radiohören
3. Und ganz vielleicht wird Lesen die Chance eines neuen Aufschwungs bekommen? Vielleicht schafft das nicht nur Joanne K. Rowling mit dem bei Jung und Alt aktuellen Renner Harry „Schlotter“? Der Befragung nach steht das Lesen jedenfalls noch ausser Gefahr.
Wenn man das Diagramm 1 „Freizeit allein“ und weiter unten Diagramm 4 „Freizeit mit Freunden“ studiert, tritt klar hervor, dass es eindeutig die modernen Medien sind, die beim Kind von heute mehr und mehr zu den treu(st)en Begleitern durch ihre Kindheit geworden sind, was selbstverständlich auf Kosten anderer, kreativer und deshalb lebendig machender Beschäftigungen geht. Dass das hinsichtlich der gesamten seelisch-geistig-körperlichen Entwicklung des Kindes nicht folgenlos bleiben kann, liegt auf der Hand. Die fast scharenweise Zunahme an ADHS-Kindern deutet zumindest auf eine dieser möglichen Folgen hin.
ADHS-Kinder, das sind Kinder mit Abgewendeten-Deformierten-Herzlosen-Sinnen….. Selbstverständlich ist die medizinische Definition eine andere (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit oder ohne Hyperaktivität). Inhaltlich trifft die ziemlich ungewohnte den Nagel vielleicht genauso auf den Kopf? Das ist nicht als Tadel an das Kind zu verstehen. Es ist nur eine Beschreibung einer zunehmenden, leiden Tatsache; der wohlständlichen Kultur-Kinderkrankheit Nummer 1 im Europa des 21. Jahrhunderts.
So weit zur Freizeitbeschäftigung allein. Wie sieht es nun bei Freizeit mit Freunden aus?
Zu den gemeinsamen Beschäftigungen, die sich heute und gestern wenig unterscheiden, zählt das erstaunlich beliebte Geheimsprachen erfinden. Hier ist die Jugend von heute stärker vertreten als die Veteranen. 25:19 hat hier für sie entschieden. Auch beim Spiele erfinden/tüfteln überwiegt die Beliebtheit heutiger Kinder mit 15:9 ein wenig. Basteln/Handwerken, 10:14, und Bauen, 3:8, zählen auch zu dieser Gruppe. Beide scheinen früher wie heute keine Renner gewesen zu sein.
Überall sonst werden grosse Beliebtheitsunterschiede sichtbar, in welchen sich die veränderte Zeit und Gesellschaft natürlich niederschlägt. Das war kaum anders zu erwarten und bestätigt damit gehabte Vorahnungen und These 1:
These 1: Unter dem radikalen Einzug modernster Medien wie Fernseher, Handy und Computer in unsere Zeit und Welt werden heutige Kinder zu einem grossen Teil ihrer Kindheit beraubt; einer Kindheit, die Leben fördert.
- Streifzüge durch die Natur wird mit 9:40 Punkten deutlich für Kinder von gestern entschieden. Etwas weniger krass verhält es sich mit dem Hütten bauen, wo das Verhältnis 18:34 ist.
- Gruppenspiele haben in den vergangenen 50 Jahren viel an Bedeutung verloren. Das Ergebnis lautet 25:46!
- Das gemeinsame Spiel mit Puppen kommt heute fast nicht mehr vor. 1:20 entscheidet für früher.
- Puppenstube und Krämerladen sind mindestens bei den befragten Kindern von heute bereits ausrangiert. 0:16 für Kinder für gestern.
- Blumen pflücken/Sträusse binden fällt ebenfalls mit 5:19 für die alte Generation aus.
- Gemeinsames Musizieren findet zunehmend weniger Anklang und Interesse. Mit 8:21 siegen die Kinder von gestern, obwohl vermutlich damals weniger Geld für Musikstunden und Instrumente zur Verfügung stand, als heute.
- Und jetzt überrunden die Kinder von heute jene von gestern in Windeseile: 32:8 siegen sie im Musik-/Radiohören.
- Noch extremer, ja am extremsten zeigt sich die Rubrik Fernsehen/Gamen mit 47:4 für heute.
- Und zuletzt wird klar, dass sich das ebenfalls konsumorientierte Shoppen mit 19:1 im Aufwärtstrend befindet.
Der klare Sieg von Fernsehen und Gamen überrascht ja auch bei „Freizeit mit Freunden“ nicht. Gleichwohl stimmt er schon nachdenklich. Man darf nicht vergessen, dass die ältere Generation bereits im Fernsehzeitalter Kind war. Der krasse Fernsehsieg muss in engem Zusammenhang mit der leiden Tatsache stehen, dass zum Beispiel die Streifzüge durch die Natur bei den meisten Kindern von heute in keiner Weise mehr Anreiz finden, weil Angebote vorhanden sind, die besser ziehen. Woran das liegt, ist eine andere Frage, der hier nicht nachgegangen wird. Fest steht bei vielen Kindern von heute: Lieber vor der Mattscheibe sitzen, als draussen mit eigenen Augen, Ohren, Händen und durchaus auch der Nase und der Zunge, je nach dem, die Natur zu erkunden. Aus ähnlichen Gründen findet das früher über Jahrzehnte begeisternde Gruppenspiel heute kaum mehr statt, denke ich.
Überrascht hat hier vor allem, dass das gemeinsame Bauen bei beiden Generationen wenig beliebt war und dass laut Umfrage heute mehr gemeinsame Tüftler leben als gestern, was ja erfreulich ist. Es wurde nicht untersucht, was denn getüftelt wird. Insofern ist die Umfrage generell sehr allgemeiner Art, nur in Teilbereichen differenzierter.
Im Aufschwung liegende gemeinsame Beschäftigungen:
1. Fernsehen/Gamen
2. Musik/Radiohören
Vom Aussterben bedrohte Beschäftigungen mit Freunden:
1. Puppenstube/Krämerladen
2. Spiel mit Puppen
3. Streifzüge durch die Natur
4. Gruppenspiele
5. Musizieren
Dass heutige Kinder, vornehmlich die Mädchen, mit dem Puppenspiel fast nichts mehr am Hut haben, lässt mindestens voraus ahnen, dass aus ihnen in ähnlichem Verhältnis vermutlich weniger Mütter werden, als aus den Frauen der 50/60er-Generationen geworden sind. Was das dann für ein Dorf oder Land bedeuten wird, ist heute nur schwach zu erahnen. Wo der Nachwuchs immer weniger wird, wird’s noch an manch einer andern Stelle zunehmend dünner. Eine starke Generation alter Menschen wartet dann vielleicht vergeblich auf menschenwürdige Pflege durch die jüngeren Generationen, da diese rein quantitativ mit grossen Lücken glänzen werden. Man könnte hier den Faden noch lange weiter spinnen, was aber über das primäre Ziel meiner Arbeit hinaus schiessen würde.
Auch der Krämerladen büsst an Attraktivität ein. Das versteht sich gesellschaftlich recht gut. Die 50/60er-Kinder kamen noch in den spannenden Genuss des „Allerwelts-Ladens“, wo es zwischen Senftube und Vorhangringen, zwischen Lakritz-stengel und Strumpfhalter einfach alles gab, was das Herz begehrte. Diese meist sehr unübersichtliche, daher so geheimnisvolle Herrlichkeit und Atmosphäre inmitten zahlloser Regale und bescheidenen Flecken luftleeren Raums war es dann auch, die uns zuhause zum „Krämerladenspielen“ animierte. Noch immer habe ich den ureigentümlichen Duft eines solchen kunterbunten Krämerladens im Bündnerland in der Nase. Auch das ganz besondere Rasseln der Kasse klingt noch immer in meinen Herzensohren. Es war eigentlich gar kein Rasseln; es war so was wie Musik, inmitten eines noch viel gemächlicheren Alltags, als er sich heute anfühlt. All das Gemütvolle und natürlich auch Beziehungsfreundliche eines solchen Ladens, der durchaus auch Platz des Dorfklatschs wurde, geht den heutigen Einkaufszentren, inklusive ihrer unmusikalischen, elektronischen Kassen ab. Das animiert nicht mehr in gleicher Weise, wie damals, zur freizeitlichen Nachahmung. Die Läden haben irgendwie ihre einstige Seele verloren – und eine andere bekommen.
Dass der direkte Kontakt zur Natur, die uns umgibt – ich sehe jetzt einmal von den Stadtkindern ab – beim Kind von heute immer weniger wird, macht wahrlich nachdenklich. Wo aber die Beziehung zur Natur verloren geht, verschwindet gleichzeitig auch ein Stück Lebendigkeit in der Seele des Menschen, vornehmlich des Kindes. Da würde es eine Menge Sinneserfahrungen, Beobachtungen und Erlebnisse machen können, die rein technisch am Bildschirm unmöglich sind. So verkümmern die Sinne des Medienkindes immer mehr – oder werden vielleicht schon bald gar nicht mehr geweckt. Daran würden nicht nur die verkümmerten Sinne des Kindes leiden – seine ganze seelische Entwicklung würde in grosse Mitleidenschaft gezogen. Dazu ein kleiner, Natur beschreibender Gegenpol:
Neulich hat mich ein kleines Bild sehr lebendig berührt: am Hang einer kleinen Waldsenkung stand ein Busch, ich glaube eine Hasel. Der hielt einen Zweig mit schön ausgeformten Blättern hinaus, und auf ihm war helles Sonnenlicht. Ringsherum aber nicht; so trat der Raum intensiv hervor; man fühlte, wie der Zweig in den Raum gehalten war; fühlte in ihm sich selbst frei und ein wenig gefährdet.[1]
Einer, der sich aufmachte, um durch die Natur zu streifen. Einer, der anhielt, innehielt und sich berühren liess. Ein dadurch Beschenkter.
Sofern diese fallende Tendenz weiter zunimmt, was zu vermuten ist, muss angenommen werden, dass das KKL in Luzern in 20 bis 30 Jahren entweder einiges zu gross geraten ist - oder aber, dass es ins grösste „Musikalische Museum der Welt für ausgestorbene Instrumente“ umfunktioniert werden muss….
Wenn ich an viele lebhaften Erinnerungen von Gruppenspielen wie „Schiitli verbannis“, „Kaiser, Kaiser, König“, „Figurenschwingen“, „Räuber und Poli“, Hüpfspiele, Seilschwingen, Ballspiele und dergleichen denke, meine ich, dass der Jugend von heute durch diesen Rückzug einiges an wertvollen Gemeinschafts-Erfahrungen abgeht, die in den Kindern von gestern wohl mehr an innerem und sozialem Reichtum bewirkten, als damals je eines spielend vermutet hätte. Wie oft passierte es spielend (im doppelten Sinn zu verstehen), dass ein begonnenes Spiel abgeändert oder weiterentwickelt wurde, was ganz besonders spannender Teil des Spielens war. Wie oft hat man sich zwischenzeitlich verkracht und musste einfach wieder Wege der Versöhnung und der Kompromisse finden, wenn man weiterspielen wollte.
Gesondert dargestellt sieht es mit den Gruppenspielen im Vergleich der Generationen wie folgt aus:
Ja, spielend lernen, ein zentrales Thema, dem man in der Literatur vom Psychotherapeuten Donald W. Winnicott immer wieder begegnen kann. Eins bekanntesten Bücher trägt den Titel: „Vom Spiel zur Kreativität“. Er sagt:
Ich werde jetzt einen wichtigen Gesichtspunkt des Spielens erörtern. Er besagt, dass das Kind oder der Erwachsene beim Spielen (und vielleicht nur beim Spielen) frei ist, schöpferisch zu sein.
Mehr als alles andere ist es die kreative Wahrnehmung, die dem einzelnen das Gefühl gibt, dass das Leben lebenswert ist. Im Gegensatz dazu steht eine Form der Beziehung zur äusseren Realität, die sich als Angepasstheit bezeichnen lässt; die Welt (und ihre einzelnen Teile) wird dann nur als etwas wahrgenommen, dessen man sich bedienen kann oder das Anpassung erfordert. Diese Anpassung bringt für den einzelnen ein Gefühl der Nutzlosigkeit mit sich und ist mit der Vorstellung verbunden, dass alles sinnlos und das Leben nicht lebenswert ist. Viele der betroffenen Menschen haben gerade soviel an kreativer Lebensweise erfahren, dass sie zu der quälenden Erkenntnis kommen, die meiste Zeit unschöpferisch zu sein, im Bann der Kreativität eines anderen oder einer Maschine….
Diese zweite Art, die Welt zu erleben, wird im psychiatrischen Sinn als krankhaft eingestuft. Auf diese oder jene Weise enthält unsere Theorie die Vorstellung, dass kreativ leben ein Zeichen von Gesundheit ist und dass Übergefügigkeit eine krankhafte Basis für das Leben darstellt[2]
(Hervorhebungen durch die Autorin)
Wer diesem Zitat aufmerksam nachdenkt, stellt vielleicht mit Ernüchterung fest, dass so gesehen heute mehr Kinder psychisch krank als gesund sind! Es ist anzunehmen, dass Winnicott treffend beschreibt, was für das Leben des Menschen so zutrifft und was bestimmt unter den Medienkindern tendenziell Sache ist. Wenn eine Jugend so viel Lebenszeit vor dem Fernseher oder dem Computer verbringt, wie wir bald in der nächsten Abbildung sehen werden, dann geschieht in den meisten so verbrachten Stunden herzlich wenig, das man de facto kreativ und lebendig sein nennen könnte. Demzufolge haben wir es mit einer unlebendigen, angepassten oder rebellischen Jugend zu tun, angebunden an die weltvernetzende Maschine PC. Damit sage ich nicht, dass es am Computer ganz unmöglich wäre – vor dem Fernseher schon – kreativ zu sein. Aber Hand auf’s Herz: das ist ja nicht die von unseren Kindern bevorzugte Art des Computerspiels.
Die unentdeckte Machtherrschaft
Was zusätzlich nachdenklich macht, ist die Tatsache, dass von den Kindern höchstselten erkannt wird, dass sie als unreife Unfreie vor dem Computer sitzen. Sie wähnen sich in der virtuellen Welt zwar in grenzenloser Freiheit – aber das ziemliche Gegenteil ist der Fall, was Winnicott bestätigen würde, wenn er heute noch lebte, vermute ich. Wer sein Zitat sorgfältig verkostet, wird damit einig gehn.
Dass ein Software-Programm dem Spieler laufend Grenzen setzt, tritt viel versteckter auf, als wenn Eltern das ihrem Kind gegenüber tun. Nur was die Software auf der Platte hat, ist am PC möglich. Dieser ist und bleibt der Regent, der Spieler der von ihm völlig Abhängige! Freilich beinhaltet eine Software in der Regel viel an „Spielmöglichkeiten“, was das Eingrenzende des Computers cachieren kann. Aber das ist im Sinne Winnicotts nicht wirklich kreatives Spiel, weil es allein auf der Basis von Vorgaben beruht und ureigene Impulse des Kindes jenseits der Software-Grenzen nicht zulässt. Eigentlich sind PC-Kinder laufend Eingesperrte. Auch wenn das an der Oberfläche betrachtet nie so aussehen mag… Gerade deshalb erfordert es ein hohes Mass an seelischer Reife, differenziertem Wahrnehmen und Denken, um dem Versklavenden dieser Maschine wirklich auf die Spur zu kommen. Und das kann von Kindern nicht erwartet werden. Es entspricht nicht ihrer Entwicklungsphase, deshalb nicht ihrem Reifegrad. Natürlich kann man mit dem Computer umgehen, ohne Sklave zu sein, aber das setzt eine Reife der Person voraus, die nicht kindlicher Art sein kann.
Fazit: Wir haben es heute mit einer Jugend zu tun, die weit herum grosse Probleme mit Autoritäten zu verzeichnen hat. Dass der Computer auch eine solche ist, durchschauen sie nicht, was gerade das Unheimliche dieser Maschine ist. Für jeden aber, der sucht- und fluchtartig vor dem Computer sitzt, dürfte diese Erkenntnis nicht mehr schwierig zu finden sein. Nur, Erkenntnis allein hilft dann nicht mehr weiter.
Vielleicht könnte der Jugend von heute nichts Besseres passieren, als dass ihnen diesbezüglich das nötige Licht aufginge? Sie anerkennt ja äusserst widerwillig einen oder eine über sich. Von da aus erst wäre vermutlich ein sinnvoller Umgang mit dem neuen Medium Computer möglich, den es zweifellos auch gibt. Einen Umgang meine ich, bei welchem das Kind die Maschine einigermassen im Griff hat – und nicht umgekehrt, was wünschenswert und für die seelische Entwicklung des Kindes förderlich wäre.
Fortsetzung folgt!
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Heinz (Donnerstag, 31 März 2022 14:07)
Ich verstehe nicht ganz heute und morgen ist ja nur ein Tag unterschied da kann sich ja nicht viel ändern