Wie seltsam sie mich anschauten, die Äpfel, als ich kürzlich ans Apfelkuchen backen ging! Bereits, als ich sie aus der Kiste befreite, in der sie gelagert werden, beschlich mich ein höchst eigenartiges Gefühl, und ich wusste auf der Stelle: Ohne diese jüngst erfahrene Gnade, dieses unverdienbare Geschenk von oben, hätte ich spätestens in diesem Moment alle Äpfel auf den Komposthaufen geknallt. In einer starken Aufwallung von Gefühlen, die von tiefster Traurigkeit bis hin zu ehrlicher Wut und Unverständnis gereicht hätten! Ja, das wurde mir jäh bewusst! Stattdessen durfte ich jetzt Apfelkuchen backen – für Gefährte UND mich. Nicht bloss für mich ...
Denn dass Gefährte noch lebt, ist seit kurzem wieder einmal alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Er war es, der mir diese Äpfel gepflückt hat. Noch einmal hatte er an jenem Tag seine hohe Leiter versetzt, um noch die letzten reifen Früchte einzusammeln. Stattdessen wurde um ein Haar er selbst eingesammelt ...
Niemand weiss genau, wie es geschah. Doch Gefährte fiel von der Leiter. Im freien Fall. An mehr kann er sich nicht erinnern. Nur weil exakt dort, wo er seitlich hinstürzte, eine Blumenkiste aus Kunststoff (Gott sei Dank nicht aus Beton) ihr fröhliches Dasein fristete, wurde beim Aufprall sein Kopf von jeder Verletzung verschont ...! Klar, eine starke Hirnerschütterung war unvermeidbar. Drei Rippenbrüche und eine arg lädierte Flanke auch. Und zwei Nächte Spitalaufenthalt mussten sein. Alles in allem aber sind das Peanuts im Vergleich zu dem, was hätte geschehen können. Und was geschehen kann, erzählte mir Gefährte seltsamerweise am Vorabend dieses unseligen und doch gnädigen Apfelpflücktages. Denn er hatte vor kurzem vernommen, dass unlängst ein Bekannter seines Alters an den Folgen eines Sturzes vom Apfelbaum gestorben ist. Weshalb Gott im einen Fall gestattet, dass ein Leben erlischt und weshalb Er im andern Fall grosse Gnade der Bewahrung schenkt – darauf habe ich keine Antwort. Es bleibt ein Geheimnis. Und wir müssen lernen, Gott Gott sein zu lassen. Er allein sieht hinter jede Kulisse. Ihm entgleitet nie etwas, und wenn es für unsere Augen noch so sehr danach ausschauen mag. Ich weiss, das ist keine leichte Aufgabe. Und doch eine nötige.
Gefährte und ich stehen noch immer staunend und dankend vor Dem, der ihm das Leben ganz neu schenkte. Und mir meinen Ehemann! Wir sind uns tief bewusst: Wir hatten kein Recht darauf. Haben diese Gnade auch mit nichts verdient. Wir durften einfach Empfangende und reich Beschenkte sein. Ja, wir haben GNADE wieder einmal so richtig handfest und überaus praktisch erfahren!
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Ich habe schon viel über Gnade nachgedacht. Irgendwann ist mir beim Bibellesen aufgefallen, dass GNADE sehr oft mit einem „Zwilling“ auftritt. Sehr häufig eben mit der WAHRHEIT oder dann mit der TREUE, die ja viel mit wahr sein, echt sein, aufrichtig sein zu tun hat. Je nach Bibelübersetzung wird häufiger Wahrheit oder dann eben Treue verwendet. Im Englischen wird GNADE nicht selten auch mit LIEBE ersetzt. Gnade und Liebe sind beides keine messbaren Werte. Während Wahrheit und Treue es sind.
Mit der Zeit fiel mir beim Lesen und Studieren auf, dass GNADE jeweils zuerst genannt wird und Wahrheit oder Treue ihr folgen. „Gnade und Wahrheit“, so tritt es auf. Wunderselten kommt es umgekehrt vor. Das kann kein Zufall sein! Reihenfolgen in der Bibel, erst recht, wenn sie sich so oft wiederholen, wollen uns auf etwas Bestimmtes hinweisen.
Ich vermute sehr: Gnade muss auf geheimnisvolle Weise der Wahrheit übergeordnet sein, wenn sie ihr in der Schrift fast immer vorausgeht.
Wir kennen in unserer Umgangssprache doch das Wort: „GNADE vor RECHT“. Das ist sehr biblisch. Recht hat es mit Wahrheit zu tun. Ist überprüfbar, was recht und unrecht ist. Oder dann dies: „VERTRAUEN ist gut – KONTROLLE ist besser“. Vertrauen passt bestens zu Gnade und Kontrolle zu Wahrheit. Diese Strategie betrachte ich als total menschlich und alles in allem - vor allem wo es um Beziehungen geht - als nicht ratsam. Menschen im Griff haben wollen, das kann nicht förderlich sein. Gott selbst nimmt total Abstand davon. Darüber staune ich immer wieder!
Als ich Psalm 57 und Psalm 108 begegnete, fühlte ich mich sehr darin bestärkt, dass Gnade eine höhere Stellung als Wahrheit hat. Heisst absolut nicht, dass es die Wahrheit nicht braucht. Inhaltlich ist sie wichtig. Aber Wahrheit scheint eine andere Stellung als die Gnade zu haben. Und die entscheidende Frage ist, wie weit gelebte Wahrheit uns letztlich führt ... Interessant dazu sind folgende Aussagen schon:
„Denn gross bis zum Himmel ist deine Gnade, und bis zu den Wolken deine Wahrheit.“
(Ps. 57/11 Elberfelder)
„Denn groß bis über den Himmel hinaus, ist deine Gnade, und deine Treue bis zu den Wolken.“ (Psalm 108/5; Elberfelder)
Gnade reicht bis über den Himmel hinaus. Wahrheit gerade mal bis zu den Wolken ...
Könnte es sein, dass es zwar gut ist, sich zu entscheiden, lebenslang ein möglichst aufrichtiger Mensch zu sein, darauf bedacht, vor anderen Menschen echt zu sein, ihnen die Treue zu halten, wahr mit ihnen umzugehen – aber summa summarum bringt mich das am Ende doch nur „bis zu den Wolken“? Was bringt mich bis über den Himmel hinaus? Die GNADE! Sie scheint ganz offensichtlich weit mehr Kraft und Auswirkung zu haben, uns Menschen am Ende unseres Lebens in unsere Heimat zu führen, als die Wahrheit das zu tun vermag! Damit meine ich das Bestreben, möglichst alles recht oder richtig oder wie vorgeschrieben (von wem auch immer) zu machen. Das mündet leicht in Gesetzlichkeit, die uns und damit durchaus auch andere um uns herum, unfrei macht. Übrigens: Gott schreibt uns NICHTS vor. Er EMPFIEHLT und RÄT beherzt und lässt uns gleichzeitig völlig frei, darauf einzugehen oder nicht!
Zum Wahrsein und Gesetze erfüllen kann ich mich selber entscheiden. Es wird nicht lückenlos gelingen, oh nein ... Wer hat das nicht schon oft genug selbst erlebt!? Gerade deshalb sind wir auf Gnade angewiesen! Gerade deshalb ist sie wohl der Wahrheit übergeordnet. Gnade kann ich mir nicht selber geben. Gnade kann ich nur empfangen von Dem, der selbst die Gnade ist: Jesus Christus, der sie für uns alle erwirkt hat am Kreuz. Hier, an diesem Platz, gilt wie an keinem anderen sonst in Vollkommenheit: G N A D E vor Recht! Wow! Weil wir eben nicht immer Wahr und echt und treu sein können. Wer sich begnadigen lässt von Ihm, steht unter Seiner ewigen Gnade. Auch wenn er nicht immer wahr sein kann oder wieder mal sonst gepatzt hat. Patzer gehören nun mal zu unserem Leben, welche Gnade not-wendig machen. Letztlich ist das sich begnadigen lassen der Inbegriff von Demut, wie Gott sie versteht. Ja so ist es: „Ich kann es ohne Dich, mein Vater im Himmel, ohne Deine Gnade, Jesus Christus, nicht machen. Deine Gnade allein wird mich eines Tages zurück in meine ewige Heimat, den Himmel, fliegen! Hab herzlichst Dank dafür!"
GNADE vor Recht ...
Möge sie mehr und mehr auch in unserem Leben den ersten Schritt tun, die GNADE! Wahrheit wird ihr folgen. Eine lohnende, wenn auch nicht einfache Lebensaufgabe.
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