Romano Guardini
...hat sich bereits zu seiner Zeit (1885-1968) mit solchen Fragen auseinandergesetzt. Man bedenke, das war zu einer Zeit, in der die Technik, im Vergleich zu heute, geradezu ein Zeitlupentempo an den Tag gelegt hat:
Nehmen wir ein charakteristisches Fortschrittsmoment der TECHNIK. Die Geschwindigkeit der Fortbewegung. Immer schneller wird der Verkehr, immer schneller die Abfolge der Verrichtungen im Beruf, immer schneller das Nacheinander der Eindrücke. Die Zeit schwindet unter den Händen. So lange man jung ist, verbindet sich die Dynamik der Bewegung mit dem Elan des eigenen Lebens und erscheint als etwas Erregendes und Kraftvolles. Dabei übersieht man aber, dass man das Element der Ruhe verliert…[1]
Nehmen wir ein anderes Beispiel: den LÄRM. Allmählich merken ja auch nicht nervöse Leute, sagen wir besser: noch nicht nervöse, dass der Lärm sich überall zu einer bösen Gefahr entwickelt…. Hier passiert etwas sehr Schlimmes: die Stille geht verloren und mit ihr alles das, was nur aus ihr heraus verwirklicht werden kann, nämlich, dass der Mensch ins Wesentliche kommt.[2]
Eine weitere der grossen Gefahren der Technik ist das ständige Angegriffenwerden durch Reize. Man sagt immer, der moderne Mensch wolle nicht nur denken, sondern sehen. Sieht er aber wirklich, wenn er in einer Viertelstunde einhundert Bilder anblickt? Dann sieht er in Wahrheit gerade nicht; er erfasst nichts Sinnhaftes, von innen Gestaltetes. Nicht die Welt, sondern nur Effekte. Eine Masse von Eindrucksfragmenten stürzt auf ihn ein, und das Eigentliche, das Innewerden der Welt in ihrer Grösse, Herrlichkeit und Tiefe nimmt ab. Alles wird flächig, dünn, zusammenhangslos.[3]
(Hervorhebungen durch die Autorin)
Wie würde Guardini wohl das Kind von heute in seiner Medienkindheit beschreiben?
Die 100 Bilder pro Viertelstunde bei Kindern von gestern dürften beim Kind von heute ohne weiteres auf 1000 angestiegen sein! Was leiden sie doch unbeschreiblich am ununterbrochenen Angegriffensein durch Reize! AD(H)S lässt grüssen! Das heisst: vermutlich ist ihr Leiden kein bewusstes, weil sie die Welt nur so kennen lernten! Für sie ist das normal. Leiden und Vermissen von Wesentlichem, auch wenn sie es nicht beim Namen nennen können, gehört zur Normalität ihres Kinderalltags …
Guardinis Überzeugung, dass der Mensch vornehmlich durch und in der Stille ins Wesentliche kommt, teile ich mit ganzem Herzen, weil all das, was meinem bisherigen Leben eine wesentliche, sinnhafte Richtung gab, nicht auf der Achterbahn im Europapark geboren wurde – nein, es wurde in der Stille, während des inneren An- und Innehaltens zum Leben erweckt, ähnlich, wie es in Jesaja 30/15 ausgedrückt wird:
For thus says the Lord God, the Holy One of Israel: “In returning and rest you shall be saved; in quietness and confidence shall be your strength.” (New King James Version, 1992)
Denn so spricht Gott, der Heilige Israels: „Durch Umkehr und Ruhe könnt ihr gerettet werden, im Stillesein und im Vertrauen liegt eure Stärke.“ (Schlachter Übersetzung, 1975)
Kaum vorstellbar, dass solche Lebensqualität nur für Menschen früherer Zeiten galt. Heute aber ist das pure Gegenteil der Fall: immer auf Achse sein, sich gleichzeitig noch betäuben…. Wie soll sich da einer noch orientieren und zu Wesentlicherem im Leben vordringen können? Das gleicht ja einer permanenten Flucht vor sich selber. Wollen wir unseren Kindern wirklich diesen Lebensstil beibringen?
Bestätigung der Thesen
Das Resultat zum Thema „Freizeitgestaltung heute und gestern“ macht im Blick auf das Kind von heute deutlich, dass vielen von ihnen für rein gestalterische Stunden im Alltag kaum mehr Zeit übrig bleibt. Sie wird nebst Schule fast ausschliesslich durch die Medien besetzt. Und an ihnen oder durch sie findet lebendiges Leben nun mal nicht statt! Dass Kinder von heute im Vergleich zu Kindern von gestern so unfassbar viel von ihrer Lebenszeit an diesen ihr inneres Leben tötenden Geräten verbringen, die sie vom kreativen Gestalten ihres Tages und Lebens fernhalten, bestätigt meine These deutlich:
These 2: Der Kinderalltag meiner Generation (60er-Jahre) war ein dem Leben zugewandterer, als es heute der Fall ist.
Wer soviel Zeit seines Lebens an den Medien verbringt, die kaum mehr mit Wirklichsein/werden oder Schöpferischsein zu tun haben, wird ein passiver, unlebendiger, fremdgestalteter Mensch. Ein reiner Konsument, der durch seine Konsumierungssucht seine einmalige, einzigartige Persönlichkeit und Inwendigkeit opfert – und so in die Nähe des Roboters gelangt.
Überleitung zum nächsten Kapitel
Da es in meiner Arbeit innerhalb der „Medienkindheit“ von vorne bis hinten ums zentrale Thema „Wirklichsein“ oder „Wirklichwerden“ geht, das eng mit einem „schöpferischen Leben“ verknüpft ist, widme ich in der Folge Donald Winnicott meine volle Aufmerksamkeit. Winnicott war ein englischer Kinderarzt und psychoanalytiker und lebte von 1896-1971. Er lässt den Leser tiefer hineinblicken in das, was in seinen Augen den Menschen zu einem lebendigen Wesen macht, so dass dieser dem Leben Sinn und Kostbarkeit abgewinnen kann. Umgekehrt stellt er dar, wie es dazu kommt, dass sich ein Mensch schlicht nicht lebendig oder wirklich fühlt. Und genau damit spricht er auch vom heutigen Medienkind. Er macht auf seine Weise deutlich, dass meine folgende These gar nicht an der Realität von heute vorbeizieht:
These 1: Unter dem radikalen Einzug modernster Medien wie Fernseher, Handy und Computer in unsere Zeit und Welt, werden heutige Kinder zu einem grossen Teil ihrer Kindheit beraubt; einer Leben fördernden Kindheit meine ich.
Ob auch die dritte These Bestätigung finden wird, mag das folgende Kapitel herausarbeiten. Sie heisst.
These 3: Durch einen Überkonsum der Angebote digitaler Medien stirbt im Kind von heute seine eigene Lebendigkeit, sein ihm innewohnender Schöpferwille, ja, das Grundgefühl, wirklich zu sein, schrittweise ab.
In diesem Kapitel soll vor allem Donald Winnicott zum Thema „Schöpferisch leben“ zu Wort kommen, den ich an der einen oder andern Stelle mit eigenen Beobachtungen ergänzen werde.
P.S. Man bedenke, dass ich diese Masterarbeit im 2005 schreib ... Heute, 15 Jahre später - finde ich leider alles nur allzu klar bestätigt.
[1] Guardini, Romano; Gottes Angesicht suchen, S. 33
[2]Guardini, Romano; Gottes Angesicht suchen, S. 34
[3] Guardini, Romano; Gottes Angesicht suchen, S. 34
Wir treffen uns bald zum Thema "schöpferisch leben"!
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