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Hund oder Kind - was zuerst?

Gedanken zum Artikel: Hunde beissen öfter zu

(Bündner Tagblatt, 2. Februar 2019)

 

Aufmerksam las ich kürzlich in unserer Tageszeitung den Artikel „Hunde beissen öfter zu“. Denn auch wir haben einen Hund. Es ging im Artikel um die Grundfrage, ob obligatorische Hundekurse mindestens für Neuhalter wieder eingeführt werden sollten? 2011 besuchte ich mit unserem dritten Welpen einen solchen Kurs mit Gewinn. Ich freute mich sehr zu erkennen, dass ein Konzept ausgearbeitet wurde, welches in allen Kantonen im Grundtenor verbindlich war. Was im Kurs besprochen wurde, konnte zuhause trainiert werden. Eine gute Idee!

 

Was mir seither auf Spaziergängen positiv auffällt: Automatisch nehmen Hundehalter ihren Vierbeiner an die Leine, wenn sie von weitem erkennen, dass sie das entgegenkommende Herrchen mit Hund nicht kennen. Wurde uns im Hundekurs eingeschärft. So können viele Hunde-Keilereien verhindert werden! Spricht ganz dafür, dass „obligatorische Hundekurse für Neuhalter“ neu eingeführt werden sollten, wie es im Artikel der Präsident der kynologischen Gesellschaft, Hansueli Beer, vorschlug.

 

Trotz positiver Hundekurs-Erfahrungen regen sich in mir auch kritische Gedanken. Nicht gegen den Kurs. Etwas Anderes macht mir zu schaffen. Es hat mit fraglicher Prioritätensetzung zu tun. Bin ganz für obligatorische Kurse für Hunde-Neuhalter, wenn es unseren Regierungen gleichzeitig und noch viel dringender um „obligatorische Kurse für Kinder-Neuhalter“ geht ... Bin überzeugt, dass Statistiken klar bestätigen könnten: Menschen, deren Grundbedürfnisse von Leib, Seele und Geist im Kindesalter ungenügend gestillt wurden, haben längst viel mehr totgebissen, als alle Hunde der Schweiz! Ich kann verstehen, wie es dazu kommt. Warum erwachen wir an diesem Punkt nicht? Warum fangen wir bei den Hunden, nicht bei den Kindern an nachzudenken, was für Grundbedürfnisse sie haben – und wie sie gut genug gestillt werden können? Mein grosser Kritikpunkt am obligatorischen Hundekurs – oder eben an unseren Regierungen.

 

Als Heilpädagogin den Hundekurs zu besuchen, war sehr interessant. Hier wurde davon gesprochen, wie wichtig es sei, dass unser Hund jetzt eine sichere Bindung zu uns aufbauen könne. Das sei vor allem in der Prägungsphase sehr wichtig. Uns wurde beigebracht, dass unser Hund jetzt möglichst viele unterschiedliche Erfahrungen drinnen und draussen machen müsse. Das sei für seine weitere Entwicklung das „A“ und „O“. Auch, dass wir ihn in der Prägungsphase immer wieder am ganzen Körper liebevoll berühren sollen. So werde er Urvertrauen aufbauen und später mühelos zulassen, wenn wir aus irgendeinem Grund die Ohren oder die Zehen untersuchen müssten etc. Kannte ich alles von meiner Ausbildung her – in der es aber nicht um Hunde, sondern um Kinder ging ... Oft stand ich nachdenklich den Kopf schüttelnd im Hundekurs und dachte: Wenn dies doch nur alle jungen Mütter mitbekommen und im Alltag mit ihrem KIND beherzt umsetzen könnten ... Hand aufs Herz: Wie viele junge Mütter kennen Begriffe wie Prägungsphase, sichere Bindung, Urvertrauen - und können sie mit dem richtigen Inhalt füllen? Viele sind orientierungslos. Jene, die davon Kenntnis haben und danach handeln, werden ihre Kinder aufblühen und gedeihen sehen. So ist das eigentlich vorgesehen. So wünscht man sie es auch als Eltern. Das Ziel zu kennen, ohne den Weg, der dazu führt, ist sinnlos. Es ist so sehr wichtig zu wissen, wie man die elementaren Grundbedürfnisse eines anvertrauten Kindes stillt. Denn die Gefahr andere totzubeissen, ist bei sicher gebundenen Hunden UND Kindern äusserst minimal! Aggression ist ein Zeichen von seelisch-geistiger Unterversorgung. Damit haben wir heute zweifellos bei zu vielen Kindern zu tun. Es reicht einfach nicht, den Tipp- und Tast(en)sinn zu trainieren. Lässt uns das kalt? Sehen wir daran vorbei? Haben wir uns bereits daran gewöhnt?

 

Als Mutter von angenommenen Kindern, allesamt mit sehr trauriger Vorgeschichte, kenne ich die herausfordernde Praxis mit seelisch unterversorgten Kindern gut. Ich habe Hoffnung für Menschen wie sie, obwohl mir längst klar ist: Unsere menschliche Weisheit und Möglichkeiten reichen bei weitem nicht aus, um ihre tiefen Verletzungen zu heilen! Bei Kindern, die an Leib, Seele und Geist dermassen unterversorgt grossgeworden sind, sind wir in hohem Masse auf Schätze angewiesen, die uns nur vom Himmel zufallen können. Wer diesen Draht nach oben noch nicht gefunden hat, bleibt aufgeschmissen, ahne ich. Auch Psychologen und Psychiater.

 

Ich stimme Hansueli Beer zu: „Wer nicht bereit ist, eine Hundeausbildung zu absolvieren, sollte auch kein Tier haben.“ Und wer nicht bereit ist, Kurse für Kindererziehung zu besuchen ...

 

Denken wir nach! Es geht um eine wichtige Schadensbegrenzung von Totbissen unter uns Menschen! Es geht vor allem darum, alles in unseren Möglichkeiten Stehende zu unternehmen, damit sich möglichst viele Kinder in unserem Land zu lebensfrohen, dem Leben zugewandten mündigen Menschen entwickeln und ihren konstruktiven Platz im Leben finden können.

 

Obligatorischer Hundekurs Ja oder Nein? JA - sofern wir endlich noch viel beherzter für unsere Kinder Vorsorge leisten! Warum nicht für alle „Neuhalter von Kindern“ in ähnlicher, schweizweit übereinstimmender Konzeptweise obligatorische Einführungs- und Aufbaukurse anbieten? Bei Hunden ist’s möglich! Sollte es für unsere Kinder unmöglich sein? Warum nicht allen Kursbesuchern die Kinderzulagen erhöhen? Wer sie verweigert, muss mit einer Einbusse rechnen. Warum nicht? Was sind uns denn unsere Kinder wert? Weniger als ein Hund?

 

Wohlverstanden, ich liebe Hunde sehr - doch die Zukunft von morgen werden auch die schlausten Hunde nie sein! Deshalb gehört unsere Verantwortung und unser Engagement definitiv und zuallererst unseren Kindern. Ob unsere Regierungen weiter darüber nachdenken werden - über den "Kinder-Neuhalterkurs" - versus "Hunde-Neuhalterkurs"?

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